Es war der Tag des Elchtests.
Zugegeben, es ist eine sehr profane Methode, beim Jazzfest Berlin 2018 durch die Wolke aus Identitäts- und Genderfragen, aus Kosmologie und kulturpolitischem Jargon hindurch zum klingenden Kern der Veranstaltung sich vorzuarbeiten.
(Achtung SZ; „altväterlicher“ Rat und „misogyne“ Wertung lassen sich trotz besten Bemühens nicht gänzlich unterdrücken.)
Der klingende Kern, das war, mit personalem Vorlauf an den beiden ersten Festivaltagen, zweifellos das Wiederauftauchen des Art Ensemble Of Chicago. Im Jahre 50plus seiner Existenz, soviel sei vorweggenommen, haben Musiker*innen dort die Mehrheit.
Auch ein Panel, „Afrofuturism and Empowerment“, lief ihm vorauf, eine Sammlung von Positionen, die sich nur wenig begründen mussten.
In Erinnerung (und des Nachlesens wert) bleibt die Autorin Priscilla Layne, derzeit fellow an der American Academy in Berlin, mit Ausführungen zur schwarzen Minderheit in Deutschland sowie mit dem Hinweis, es gebe neben dem Afrofuturismus noch weitere ethnische Futurismen.
Bei ihr schimmerte weniger Romantik durch als beispielsweise bei Roscoe Mitchell, mit seinen niemals unerwähnten 78 Jahren der legendäre Alterspräsident des Festivals. Mitchell wünscht sich eine Zeit zurück, in der man sein Viertel nicht verlassen muss, um den Lebensunterhalt zu verdienen.
Es kam niemand auf die Idee, dass dieser Grundzug der Moderne alle erfasst, nicht nur die Mitglieder der „african-american diaspora“.
Einen langen roten Teppich rollte die Festivalleitung für die Begegnung Roscoe Mitchell´s mit Camae Ayewa alias Moor Mother aus. Und die Vorgeschichte ist ja auch zu schön, sehr jazz-like: alter Künstler (in diesem Falle einer, der kaum durch Regungen auffällt) schätzt überraschenderweise junge Künstlerin, aus einem ganz anderen Genre. Sie traut sich, ihn anzusprechen und einzuladen.
Der erste Gig findet beim Jazzfest Berlin 2018 statt.
Wer Roscoe Mitchell aus den letzten Jahren kennt, war kaum überrascht, dass er sich an die Rolle hält, die er z.B. auch an der Seite von Jack DeJohnette spielt: als Solitär, der seine Überblaspatterns nahezu kontextfrei durchzieht.
(Er entspricht damit der Anekdote, die derzeit über ihn kursiert. Darauf angesprochen, wie er sich auf seinen Partner einstelle, antwortete er: „Gar nicht. Ich spiele etwas Interessantes; ich gehe davon aus, dass mein Gegenüber auch etwas Interessantes spielt - sodass der Zuhörer zwei interessante Dinge erhält.“)
Das klingende Resultat in Berlin wäre sehr nach dem Geschmack von John Cage* gewesen. Im Sinne einer Jazzästhetik (wenn sie denn noch angewendet werden darf), warf es Fragen auf.
Ein Problem dabei ist der unklare künstlerische Status von Camae Ayewa aka Moor Mother. Ihre Bühnenpräsenz steht außer Frage, aber: sie singt nicht, sie rappt nicht, sie moduliert ihre Stimme wenig, als Elektronikerin ist sie kaum zu bezeichnen (außer Echos verschiedener Länge ereignet sich nichts).
Vor allem: sie scattet nicht. Sie trägt Textpartikel vor, häufig aus Muddy Waters´ Songs, immer wieder „drop, drop, drop“ - es sind Anstöße zu einem Narrativ, Anstöße zur Interaktion, die fragmentiert bleiben. Mitchell geht darauf nicht ein.
Selten ist die These, Musik sei nicht propositional (= sie kann keine Aussagen machen) so überzeugend vorgeführt worden wie im Haus der Berliner Festspiele.
Deswegen lieben wir andererseits ja eine Sängerin wie Sidsel Endresen so: weil ihre virtuos jonglierten Silbenfetzen keine Semantik tragen. Was sie „bedeuten“, entscheidet jeder Hörer selbst; er/sie wird nicht - wie bei Moor Mother - mit Bedeutung angefüttert, ohne einen Happen wirklich verdauen zu können.
Zuvor, in ihrem Quintett Irreversible Entanglements, deutete sich die ästhetische Schieflage schon an. Mit dem Unterschied freilich, dass ihre vier Mitakteure in FreeJazz-Manier sich bestens verknüpften. Eine Scatterin, ja auch Rapperin hätte hier mühelos mitziehen können.
Nicht zuletzt, das Ensemble segelte unter falscher Flagge: Irreversible Entanglements, unumkehrbare Verknüpfungen, sind als Motto für Improvisierte Musik denkbar ungeeignet. Wenn die aufblühende Jazzphilosophie uns eines lehrt, dann die Verhandelbarkeit aller Parameter in der Improvisierten Musik.
Früher war dies die Domäne des Art Ensemble Of Chicago. Legendär die Kraft & Herrlichkeit, mit der das Quintett seine Art FreeJazz mit ethnischen Musiken aufkochte.
Das ist vorbei. Das 11köpfige Ensemble, dem nur noch zwei der „Ur“-Mitglieder angehören (neben Roscoe Mitchell noch Famoudou Don Moye, perc), realisierte große Teile seiner Performance mit Blick in eine Partitur. Das war wenig „black“ und schon gar nicht „future“, sondern kammermusikalische Konvention.
In der „Berlin Special Edition“ des AEOC stellten Musiker*innen die Mehrheit, darunter die wie immer fabelhafte Tomeka Reid, vc, Nicole Mitchell, fl sowie Christina Wheeler mit einem großen, subtil eingesetzten elektro-akustischen Arsenal bis hin zum Theremin.
Spät, sehr spät, als der die einzelnen Sektionen brav dirigiert habende Roscoe Mitchell zu Saxophon wechselte, kam der erwartete, von vielen ersehnte kollektive Ausbruch, die Reminiszenz an die Vergangenheit.
Es gab Kritiker, die die Performance so entwürdigend fanden wie seinerzeit die letzten Auftritte von Oscar Peterson, einhändig.
Das ist maßlos übertrieben. Abgesehen davon, dass Musik sich wenig eignet, um „Future“ zu beschreiben (weil sie aus lauter Gegenwart besteht), kann man zunächst einmal dem umgekehrten Geschlechterverhältnis in diesem klassischen Repräsentanten einer Männerdomäne einiges abgewinnen.
Zukünftig wäre, wenn die Frauen gegenüber den alternden Kerlen in dieser Band stärker eine „alternative history“ durchsetzen könnten.
Der alte Slogan, im Jazz sei der richtige Ton immer nur einen Halbton entfernt, wurde an diesem Abend einer harten Prüfung unterzogen.
Durch eine weiße Trompeterin aus Chicago, jetzt New York, Jamie Branch, über die man mit Überraschung jubelnde Kritiken aus Saalfelden und New York hört.
Jamie Branch, das darf man sagen, ist eine rare Erscheinung. Im Jazz.
Die Bühnen des Jazzfest Berlin haben in 54 Jahren etliche vollschlanke Performer getragen; vermutlich nie zuvor aber eine Person im Dress des Prekariats, im Drei-Streifen-outfit.
Jamie Branch bedient dieses Image zunächst mit jedem Schritt, bevor sie die Trompete ansetzt. Es wäre albern, ihr Talent abzusprechen; es gelingen ihr Läufe, auch in Sekundschritten a la Manfred Schoof. Aber nicht selten stürzt sie aus der Intonation - und ihr Bassist gleich mit.
Auf einem Festival, auf dem im letzten Jahr Ambrose Akinmusire an diesem Instrument zu hören war, von den Vorgängern in 53 Jahren ganz zu schweigen, sollte man sich darüber wundern dürfen.
Mehr als je zuvor griff dieses 55. Jazzfest nach neuen Spielorten - einer davon gleich im Keller des Hauses der Berliner Festspiele, „Un(ter)ort“, 360° wie die Drehbühne darüber.
Man konnte optisch Fellini´s „Satyricon“ assoziieren; nur, dass in den Katakomben hier Musiker*innen agierten, je ein bis zwei.
Die älteren Semester mochten sich akustisch in Psychedelia zurückversetzt wähnen, in die Zeiten von Amon Düül vielleicht.
Nur dass die Mitglieder des Kim Collective (darunter der Schlagzeuger Max Andrzejewski oder der Bassist Otis Sandsjö) mit Waber-Sounds sehr viel besser, nämlich dramaturgisch, umzugehen wissen.
Ein Spektakel ja, aber für die je dreißig, die Platz nehmen durften, ein keineswegs auf Gags verengtes Vergnügen.
erstellt: 03.11.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten
* PS (08.11.18)
Ein treffendes Zitat findet sich bei Christian Grüny ("Verfremdung und Verantwortung.
Dimensionen des Experimentellen in der Musik")
Demnach soll Cage den Mitgliedern des Art Ensemble Of Chicago nach einer Probe gesagt haben:
"Ich riet ihnen, nicht einander zuzuhören, und bat jeden, wie ein Solist zu spielen, als ob er der einzige auf der Welt sei."