What you have missed: Dell/Lillinger/Westergaard/Degen, Jazzfest Bonn

Früher, ganz früher, als Keith Jarrett noch auf Festivals spielte, hat sich aus der Bewunderung seiner Kollegen eine Faustregel entwickelt: „als Pianist hast du ganz schlechte Karten nach dem Auftritt von Keith Jarrett!“
Dieser Postionseffekt gilt nicht erst seitdem, er gilt auch für alle anderen Instrumentengruppen. Eine neuerliche Bestätigung zeigte sich beim Jazzfest Bonn, am 02.09.2021 im Pantheon (übrigens, eine vorzügliche location).
Wer nach Christian Lillinger an ein drumset sich setzt, am selben Abend, auf derselben Bühne - der sieht alt aus.
Terrasson BN klein 1Insofern sollen sowohl der Schlagzeuger als auch der Bassist, die Jacky Terrasson aus Paris mitgebracht hatte, namenlos bleiben: Kreisklasse. Verglichen mit vor 10 Jahren, die Jazz-
polizei erinnert an einen Auftritt des Meister-
pianisten in der Bonner „Harmonie“ mit einer afro-amerikanischen Rhythmusgruppe (möglicherweise Ben und Jamire Williams) -
ein Absturz.
Terrasson, 55 und rundlich geworden, zieht ein Programm ab, das vielleicht in einem Nightclub funktioniert, zu vorgerückter Stunde, in the wee hours of the morning, wo die gute Laune die Ohren schläfrig gemacht hat - es funktioniert aber nicht nach einem Auftritt von Dell/Lillinger/Westergaard.
Das Faszinosum, das diese mit ihrem Gast Bob Degen erzeugt haben, hängt sozusagen noch im Raum, zumindest in den Köpfen derer, die zu Unterscheidungen fähig sind.
Terrasson arbeitet stilistisch auf einer anderen Baustelle, ja klar, aber obwohl er wie gewohnt seine rhythmisch-melodischen De-Konstruktionen vorführt (an „Love for Sale“, „Somewhere over the Rainbow“ oder „Smile“) - nichts funkelt, nichts glüht, die Kabinettstückchen wirken unelastisch, sie wirken einstudiert.
Davor also Dell/Lillinger/Westergaard mit Bob Degen, 76. Zuletzt hatten sie auf diesem Posten (und werden sie in diesem Herbst wieder haben) die „klassische“ Pianistin Tamara Stefanovich.
Degen hat einen Ruf als „Mr. Jazzpiano aus Frankfurt“, in Jahrzehnten Zusammenarbeit mit allen, die dort leben oder durchreisen, aber mit nur gelegentlichen Übertritten in die Avantgarde.
Das Rätsel würde vergößert noch durch den Bonner Festivalleiter, Peter Materna, der die Wahl des vierten Mannes eher als Zufallsprodukt darstellt. Bob Degen oder Peter Evans.
Mit letzterem, dem Trompeter, hätte es ein völlig anderes Konzert gegeben. Das ist keine kontra-faktische Spökenkiekerei. Denn was Materna nicht wusste (oder zu sagen vergaß): D/L/W haben im Frühjahr fünf Tage mit Degen gearbeitet, in Kürze bringen sie das Produkt heraus, eine Doppel-Vinyl auf MPS.
Das ist das Programm, das Programm im Pantheon.
Dell Dillinger Westergaard DegenDie Rhythmusgruppe (Jonas Westergaard, b, und Christian Lillinger, dr) startet - und bleibt für ihre Verhältnisse unter-komplex.
Sie startet mit einem uptempo swing. Wie man ihn seit den Tagen von J.F. Jenny-Clark (1944-1998) und Daniel Humair von europäischen Musikern nicht mehr gehört hat. Ein Höllenfeuer aus hohem Druck, Interaktion, Akzentwechseln.
Christopher Dell legt darüber auf dem Vibraphon eine Reihe von Tönen in variablem Abstand, möglicherweise eine 12-Ton-Reihe. Degen folgt wie in einem kurzen Echo mit jeweils dem gleichen Ton.
Die Spannung ist enorm. Der Oberbau wirkt denkbar jazzfern, als schaute mal kurz die Zweite Wiener Schule vorbei und liesse sich von einem Jazz-Rhythmus forttragen.
Zehn Minuten geht das so; dann beginnen alle vier Schlegel in Dell´s Händen ihren Tanz, sodass die Augen nicht mehr folgen können: ein Solo. Die Aufregung fährt Dell in die Beine, er stampft und tritt, vollzieht große Gesten mit den Armen, wie ein Dompteur.
Degen folgt seinerseits mit einem Solo.
Christopher Dell kündigt als nächstes eine Suite an, eine Beschäftigung „mit dem Thirdstream des Modern Jazz Quartet“. Und tatsächlich, ein Blues ist auch darunter; man meint, das eine odere Thema (wieder) zu erkennen.
Nebbich. Alles ein „als ob“, ein im-Stile-von-komponiert, eine Hommage an ein historisches Jazzensemble aus dem Geiste der Jazz-Gegenwart. Und wenn man das weiß (die Jazzpolizei erfuhr es auch erst hinterher), dann erscheinen einem die Schlüsse bei zwei, drei Stücken nicht mehr gar so märchenhaft.
Egal. Es gibt dringenden Anlass, auf die nächsten Tonträger von D/L/W sich zu freuen: mit Bob Degen.
Und später auch mit Tamara Stefanovich.

Fotos: Heike Fischer
erstellt: 03.09.21

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