JONAS BURGWINKEL Side B *********
01. Plug in (Burgwinkel u.a.), 02. Scissors, 03. Commander Crame, 04. House Weekend, 05. Dawning, 06. What I did, 07. In a silent Way (Zawinul), 08. El Moinero, 09. Minced Beat, 10. Pyramid Song (Radiohead), 11 Stecken (Eldh)
DJ Illvibe - turntables (2,5,6,8), Hans Nieswand - turntables (3,4,9,10), Niels Klein - ts, Sebastian Müller - g, Pablo Held - ep, Robert Landfermann - b, Jonas Burgwinkel - dr, Petter Eldh - remix (11)
rec. 23.11. + 19.12.2013, 13.02.2014
Klaeng Records 010, LC 30645
Jetzt, wo der Laden geschlossen, ja sein früherer Nutzen gar nicht mehr erkennbar ist (weil ein Heizungskeller daraus wurde), jetzt wird das Stecken im Belgischen Viertel in Köln erst recht zur Legende.
Es gibt noch Fotos im Internet, und nur noch dieses Ton-Dokument erinnert an die wilden Donnerstags-Sessions, organisiert von Jonas Burgwinkel, Professor für Schlagzeug an der Musikhochschule Köln,musikalisch groß geworden im Pablo Held Trio.
Man legt sich nicht weit aus dem Fenster mit der Wertung:
Jonas Burgwinkel, 33, gehört derzeit zu den führenden Jazzschlagzeugern in Europa, vielleicht steht er auch an deren Spitze. Seit auch letzte Partikel von Brian Blade und Bill Stewart in seinem Spiel ausgebügelt sind, könnte er stilistisch durchaus auch den Amerikanern etwas sagen. Ein Schlagzeuglehrer aus der Destination Düsseldorf z.B. hält Burgwinkel technisch Brian Blade überlegen.
Aber, wir wollen uns nicht in Drumtech verlieren, für den Kritiker reicht zu sagen: da, wo Burgwinkel auftritt, sitzt er immer auf der Stuhlkante, gelegentlich muss er auch aufstehen, um visuell zu überprüfen, was er akustisch kaum glauben mag.
Wo Burgwinkel auftritt, ist immer was los, ist Jazz-Gegenwart, die Süddeutsche würde jubeln: „...kommt der Jazz zu sich selbst“ (wenn sie denn Ohren hätte für andere als afro-amerikanische Nostalgiker).
Burgwinkel´s immenser Katalog an Aktivitäten (jüngst z.B. in einem Duo mit dem Schweizer Posaunisten Samuel Blaser im Loft, Köln) findet auf Tonträgern nicht einmal annähernd Widerhall.
Insofern nimmt man dankbar den Mitschnitt dreier Winterabende 2013/14 entgegen, dessen Live-Zeugenschaft nur den allerwenigsten geglückt sein dürfte (der Rezensent war auch nicht dabei).
Obwohl, ist es ein „Mitschnitt“?
„Side B“ trägt eher Züge einer compilation, einer Selektion von Höhepunkten. Das Album beginnt mit Volksgemurmel und allfälligem Kneipen-Pop, wie er wohl auch im Stecken lief. Nach 12 Sekunden setzt - na was? ein Funk-Groove ein. Bei einem Blick auf die Beteiligten und ihre musikalische vita dürfte das eine Überraschung sein.
Und es kommt noch doller:
nach Abhören der kompletten Dreiviertelstunde „Side B“ liegt kein Stilbegriff näher als ... Jazzrock.
Yes, Folks, obwohl es in den liner notes heisst: „This music was completely improvised“, liegt das, was man üblicherweise damit verbindet (FreeJazz fff.), denkbar fern.
Ganz nahe aber liegen Strukturmuster und Klangfarben der Konzerte von Miles Davis 1969/70/71. Pablo Held z.B., renommiert durch seine Klangkultur am Flügel, brilliert hier am E-Piano, und zwar mehr noch als auf dem Album des hier gleichfalls mitwirkenden Gitarristen Sebastian Müller
Selten hat jemand das Tongewusel a la Chick Corea & Keith Jarrett z.B. aus „Miles at Fillmore“ so produktiv fortentwickelt wie hier Pablo Held: „Commander Crame“ kocht fast genau so, und ab da schüttet Held in beinahe jedem Stück einen regelrechten Arpeggien-Regen aus, kulminierend in track 11, in dem Petter Eldh, der neue Remix-Meister des Jazz (ja wir brauchen die ganzen externen Kräfte gar nicht, die Villa Lobos und wie sie alle heißen) die ganze Veranstaltung auf den Siedepunkt bringt.
Bei 2:50 haut Eldh, begleitet von einem Jubelschrei Burgwinkels (so etwas liebt er) ein brutalo vamp heraus, dass einem die Haare zu Berge stehen.
Ja, die DJs in dieser Produktion, auch sie haben überraschende Rollen. Sie liefern weniger Rhythmen als vielmehr Vokal-Samples, und dies so geschickt platziert (oder geschickt gemixt?), dass man mitunter meint, die Vokalisten müssten sich leibhaftig inmitten der Live-Mannschaft befinden.
Als Free-Jazz-Groove-Jams charakterisiert Jonas Burgwinkel das Unternehmen auf der „Klaeng“-Webseite. Und wenn man die ersten beiden Begriffe nicht zusammen (im Sinne der Gattung FreeJazz), sondern getrennt versteht, als freies Suchen nach Jazz-Grooves, ist dies recht zutreffend.
Zwar wird das Metrum hier und da aufgelöst, aber ganz überwiegend basiert das Geschehen auf Grooves. Auf Grooves, die sich immer wieder wandeln - viel häufiger als bei Miles seelig, das ist der große Unterschied zu damals.
Paradigmatisch dafür erscheint „Dawning“: nach einem drum-intro in typischer Burgwinkel-Art (mit abgewandelten drum´n´bass-patterns) schieben sich verschiedene ternäre Funk-Grooves übereinander, die patterns wechseln häufig, aber es groovt ohne Ende! Klanglich ist „Dawning“ eine einzige Ringmodulator-Orgie, und noch nie haben sich deutsche Jazzmusiker in so eindringlichen Wiederholungsmustern aufgeschaukelt.
Insofern präsentieren hier nicht nur Burgwinkel & Held eine andere, unbekannte Seite, sondern mit Robert Landfermann am Kontrabass das komplette Pablo Held Trio eine „Side B“. Man könnte sich vorstellen, dass sie demnächst ihre Konzerte in einen klassischen Jazz- und in einen elektro-akustischen Set aufteilen.
„This music was completely improvised“, das cover benennt zwei Ausnahmen: „Pyramid Song“ von den immer wieder jazz-geeigneten Radiohead (hier kommt ein männliches Vokalsample zum Einsatz, das mit dem Songtext in keiner Verbindung steht) und Josef Zawinul´s ewiges „In a silent Way“.
Sie spielen es rubato, es ist das am meisten nostalgische Stück, die deutlichste Referenz an einen fernen Impulsgeber, dessen Anstösse ansonsten in ein sehr zeitgenössisches Format transformiert werden.
Das ist Jazz anno 2015, und wer aus Deutschland in diesem Jahr das überbieten will, der muss früh aufstehen.
erstellt: 03.07.15
©Michael Rüsenberg, 2015. Alle Rechte vorbehalten