KAMASI WASHINGTON The Epic ****
CD 1
01. Change of the Guard (Washington), 03. Askim, 03. Isabelle, 04. Final Thought, 05. The Next Step, 06. The Rhythm Changes
CD 2
01. Miss Understanding, 02. Leroy and Lanisha, 03. Re Run, 04. Seven Prayers, 05. Henrietta Our Hero, 06. The Magnificent 7
CD 3
01. Re Run Home, 02. Cherokee (Ray Noble), 03. Clair de Lune (Debussy), 04. Malcolm’s Theme (Terence Blanchard), 05.The Message
Kamasi Washington - ts, Thundercat (Stephen Bruner) - b, Miles Mosley - b, Roland Bruner jr. - dr, Tony Austin - dr, Brandon Coleman - keyb, Cameron Graves - p, Ryan Porter - tb, Patrice Quinn - voc, Chor und Orchester
rec. 2011
Brainfeeder BF 050
Boah, wat´n hype!
Gerade erst wurde ein Sänger mit einer „Echo“-Trophäe zur Ruhe gestellt, der auch unter gleissendem Bühnenlicht die Ohren bedeckt, als leide er an einer schweren Mittelohr-Entzündung, da wird der nächste Afroamerikaner durch die Decke geschrieben.
Und was für eine Gestalt er ist: 34 Jahre alt, ein Recke wie Jean-Paul Bourelly, mit aufbrausender Angela-Davis-Frisur, gehüllt in bunte Gewänder, als käme er direkt aus dem Sun Ra Arkestra.
Der Hype für Gregory Porter, er nimmt sich aus wie ein laues Lüftchen gegen die Wort-Böen, die von der Ankunft des neuen Jazz-Messias Kamasi Washington künden - als nichts weniger wird er gefeiert.
Es sind dies freilich Urteile von einer gewissen jazzhistorischen Amnesie. Das mag kaum verwundern, denn wenn schon für viele Jazz-Studenten gilt, „Riesengroße Felder sind unbekannt“, warum sollten Jazzkritiker davon ausgenommen sein?
Die Unverfrorenheit beginnt allerdings schon dort, wo Washington zu Hause ist, beim Label des Produzenten Flying Lotus, das behauptet, so etwas wie „The Epic“ habe die Jazzwelt noch nicht gesehen.
Nun gut, das ist Label-Propaganda, das ist Eigenlob, das dürften professioneller Hörer gar nicht erst ignorieren. Stattdessen aber kommt der Hefeteig des Labels Brainfeeder („Hirnfütterer“) in ihren Denkorganen zu eruptiver Ausdehnung.
Vorneweg mal wieder Andrian Kreye in der SZ, er spricht nicht nur von einer „vollkommenen Überraschung“, sondern von einer Wirkung dieses Albums, „als hätte die Jazzgeschichte nur darauf gewartet, endlich auf den Punkt zu kommen.“
(Warum aber hat sich diese verschlafene Tante namens Jazzgeschichte ein Jahrhundert lang so geziert?).
Christoph Merki, Tagesanzeiger/Zürich, steht dem kaum nach: „Er erfindet den Jazz neu“, Kamasi Washington „schlägt einen Ton an, den man im Jazz wohl nur alle zehn Jahre hört“ (das sollte man Joachim Ernst Berendt ins Grab rufen, er wird sich freuen, dass seine belächelte 10-Jahre-These immer noch umhergeistert)
Spiegel Online greift zweimal zur Fanfare, wobei der große Wurf zunächst auf Jahresmaß schrumpft, „das vielleicht relevanteste, radikalste Album des Jahres“ und später „ein Jungbrunnen für den Jazz“ übrig bleibt.
Fatma Aydemir, taz, trifft KW in LA, wo er wohnt und ihr in einer rührenden homestory anvertraut, „selbst die Gangster ließen mich in Ruhe, sobald sie wussten, dass ich mich auf die Musik konzentrierte.“ Dann übernimmt er den Tonfall von his master´s voice und
sagt doch allen Ernstes:
„mein Album hört sich für mich nach der modernsten Form des Jazz an.“
So what, könnte man sagen, die Jazzkritiker werden dem jungen Mann schon die Ohren langziehen. Aber da viele von ihnen ihre Tätigkeit im Wortsinne von „unterscheiden“ fallen gelassen haben und zu den „Zirkulationsagenten“ geworden sind, wie sie - hellsichtig wie immer - Hans Magnus Enzensberger schon vor vielen Jahren beschrieben hat, nimmt nicht weiter wunder, dass nur wenige das Promotionfeuer von Künstler & Label & Kollegen zu löschen versuchen.
Zu diesen wenigen zählt Stefan Hentz, der auf Zeit online Urteile wie das der SZ als „Unsinn“ abtut und „The Epic“ summa summarum für „gute, hörenswerte Musik“ hält.
Ähnlich Stewart Smith auf der Internet-Plattform „The Quietus“, der ebenso genau hinhört, viele Referenzen benennt in dieser, wiederum zutreffend bezeichneten „hybriden Hard bop/Funk Stuktur“. Smith verneint, dass „The Epic“ formal „radikal“ sei, er ist insbesondere skeptisch im Hinblick auf die Streicher- und Chor-Parts, hält das Ganze aber für „erfreulich“.
Dem kann man sich anschliessen. Hier hat keineswegs ein nobody aus dem Stand heraus die Jazzgeschichte umgekrempelt, sondern einer sehr gekonnt den Katalog seiner Vorlieben zu einer mimikry aufgebrezelt. Anders als dar- und unterstellt hat Kamasi Washington nämlich stinknormale „paying the dues“-Spuren (so werden die Lehrjahre im amerikanischen Jazz bezeichnet) hinterlassen.
Er wirkt auf Harvey Mason´s „Chameleon“-Album (2013) mit, er war - sehr traditionell - im Orchester von Gerald Wilson und hat mit diesem sein Album „In my Time“ eingespielt. Er hat, laut eigener Webseite, mit McCoy Tyner, Freddie Hubbard, Kenny Burrell und George Duke gespielt, ein reichlich normaler jazzcat also.
Keine Frage, der Mann kann sein Tenor spielen, auch in großen Bögen Spannung halten, er ist ein shouter, wie sich seit Kenny Garrett (yes folks auf dem Alt) kaum je wieder einer gezeigt hat, und er verfügt ganz offenkundig über eine Bühnenpräsenz.
Auch seine Mitspieler sind nicht von Pappe, unter ihnen Roland Bruner jr., einer der besten Vertreter des new gospel drumming.
Nur, das alles sind zwar willkommene, aber keineswegs Eigenschaften, die nicht ebenso gute, wenn nicht bessere Vorläufer in der Jazzgeschichte hätten. Washington ist ein Enzyklopädist, einer, der das Vorhandene aufsaugt, und zwar aus afro-amerikanischen Jazzstilen der 60er und 70er Jahre: er breitet in wortwörtlich epischer Breite nichts aus, nicht einen Ton, der irgendwie neu wäre.
Der Cosmic Jazz von Alice Coltrane klingt hier an, der Ton ihres Mannes und der von Pharoah Sanders sowieso, die wuchtigen Akkorde von McCoy Tyner (aber auch dessen Streicher-Kitsch von „Fly with the Wind“, 1976), sein Arrangement von Debussy´s „Claire de Lune“, nimmt man das Posaunen- und das Tenorsaxophon-Solo raus, dürfte auch einem James Last gefallen haben. Das kalkulierte Chaos, das Stimmengewusel a la Sun Ra, die eine Absage an das in manchen Teilen der Szene verpönte Perfekte implizieren, ist beinahe omnipräsent.
Das Pathos kulminiert in Malcolm Theme“, das sich wie ein Oratorium auftürmt und mit einer Rede von Malcolm X schließt. „I believe in Islam. I am a muslim. There is nothing wrong with beeing a muslim. There is nothing wrong with the religion of Islam...“
Nur, Mitte der 60er verstand man diesen Text völlig anders als heute; ihn derzeit einfach so heineinzuschnippseln, ist ein billiger, naiver Folklorismus, der freilich leicht die wohlfeilen semi-politischen Obertöne des ganzen Unternehmens zum Leuchten bringt. Wer, zumal als Afro-Amerikaner, Assoziationen an die Bürgerrechtsbewegung zum Klingen bringen kann, der hat schon mehr als die halbe Miete.
Insbesondere diese CD 3 klingt wie aus dem CTI Katalog der frühen 70er abgekupfert, namentlich der 6000 series der Jahre 1970 bis 1976; gute alte Bekannte sind wieder da: das funky angeschlagene, mit wha-wha verfremdete Hohner Clavinet, das schnell rotierende Leslie-Cabinet, der trockene snare-sound jener Jahre - und Themen, wie man zuhauf bei Freddie Hubbard, Stanley Turrentine, Joe Farrell, Bob James finden konnte.
Bloss, eine Hammer-Groove wie den von „Hornets“, 1973 live mitgeschnitten von CTI mit Freddie Hubbard, Stanley Turrentine, Eric Gale, Ron Carter, Herbie Hancock, Jack DeJohnette kommt auf „The Epic“ (natürlich) nicht unter.
Das waren die Originale, hier wird der Aufguss ausgeschenkt. Er reizt, wenn auch nicht über volle drei Stunden, durchaus die Jazz-Geschmacksnerven. Muss einen das wundern? Bei den Vorlagen?
erstellt: 06.07.15
©Michael Rüsenberg, 2015. Alle Rechte vorbehalten