SEBASTIAN MÜLLER Peel *******



01. Prologue (Müller, Held, Gille, Camarda, Burgwinkel), 02. Save the World (Sebastian Müller), 03. Respirator, 04. 20000 Leagues (Müller, Held, Gille, Camarda, Burgwinkel), 05. Peel (Müller), 06. Grind, 07. Extraterrestrial Mating Call, 08. Lion´s Skull, 09. Dying Breed (Müller, Held, Gille, Camarda, Burgwinkel), 10. Trauma (Müller)

Sebastian Müller - g, Pablo Held - keyb, Sebastian Gille - reeds (1,3,4,5,8,10), Daniele Camarda - bg, Jonas Burgwinkel - dr

rec. 07/2013

Klaeng Records 05, LC 30645

Gerade ein halbes Dutzend deutscher und mittel-europäischer neuer Produktionen abgehört. Nette Leute, gut ausgebildet, aber ohne jede Ahnung, wie man ein Album beginnt; die meisten erreichen erst mit dem dritten Stück Betriebstemperatur, sodass man ahnt: das wollen sie.
Diese Produktion - von einem Gitarristen mit dem Allerweltsnamen Sebastian Müller - ist anders. Auch der Herr Müller ist gut ausbildet (Berklee, Musikhochschule Köln) - aber er schlägt sofort Alarm.
Ein nervöses Ringmodulator-riff auf der Gitarre, keyboard-Fiepen im Hintergrund, grummelnder Baß, die drums quicklebendig dazwischen, ein trockenes Tenorsax, der Herr Müller steigt aus dem riff aus, cut!
Das erste Stück endet mit einem saftig verhallten Schlag auf der snare.
Bis dahin sind ganze 67 Sekunden vergangen.
Und der Herr Müller lässt nicht locker. Es folgt ein Groove im Morse-Rhythmus, die keyboards legen einen wohligen Begleitteppich, wenig später wird alles abstrahiert; der Herr Müller fährt wie Bill Connors dazwischen, die keyboards entwickeln eine parallele Melodik, bleiben aber im Hintergrund.
An den Tasten sitzt einer, der sich seinen Ruf am Flügel erworben hat, Pablo Held. Aber hier sitzt er nicht am akustischen Piano, sondern am keyboard und hat auf seinem NordLead die Farben diverser Elektro-Pianos geschaltet. Er bleibt meist im Hintergrund, als Begleiter. Und das reicht für eine grandiose Vorstellung.
Man höre nur mal, was Held im Titelstück von hinten nach vorne schickt, während der Herr Müller in einem Dreieck aus Bill Connors, Allan Holdsworth und Scott Henderson explodiert. Und schreit.
Nicht genug, mit „Grind“ legt er noch ein anderthalb Minuten-Geschoss nach.
cover-muller-peelSo amerikanisch hat der deutsche Jazzrock seit den Tagen der Franck Band nicht mehr geklungen. Und damit dies nicht mit „Kopie“ verwechselt wird, lässt sich diese Wertung auch vornehmer formulieren: es hat vielleicht konzeptionell größere Schachzüge gegeben (z.B. mit Heavy Rotation von Roger Hanschel), aber kaum je eine resolutere im deutschen Jazzrock.
Die Forderung nach „Dringlichkeit“, wie sie unser Freund Urs Röllin vom Schaffhausen-Festival so gerne ins Feld führt, sie wird hier geradezu übererfüllt.
Und das in einem Ensemble mit klar strukturierter Hierarchie, mit einem Solisten/Komponisten, dessen Stimme selbst in den drei kollektiv erarbeiteten Stücken tonangebend bleibt. Die anderen sind Begleiter, und man muss nicht der Prosa der gemeinen Jazzkritik verfallen, die ihnen zum Trost dafür gerne das Lied von den „Freiräumen“ singt.
Die haben sie, und wenn man Pablo Held´s intensives Wirken im Hintergrund hört, seine Anker in einer sehr fruchtbaren Zeit, den Hancock- und Corea-voicings der frühen 70er, dann kann man durchaus ins Sinnieren kommen und an den Ehrentitel denken, dem ein Kenny Barron für seine „art of comping“ anhängt.
Begleiten ist keine Schmach, es kann eine Kunst sein.
Auch der Bassist Daniele Camarda, ein bis dato unbeschriebenes Blatt, ist hervorzuheben; er bedient nicht nur das Instrument von Anthony Jackson, die 6saitige Bassgitarre, er hat auch dessen Lektion räumlichen Spielens beherzigt.
Was ihn wunderbar mit Jonas Burgwinkel verzahnt, dessen Vielseitigkeit macht erneut staunen. Dass der junge Professor Jazzrock kann, war bekannt (spätestens seit dem Album eines anderen Kölner Gitarristen, Hanno Busch, das aber weitaus „cleaner“ und spannungsärmer ausfällt), aber hier, in diesem elektrischen Genre, findet sein Interaktionismus, dieses auch in dichten patterns nicht nachlassende Spiel, eine Brutstätte sondergleichen.
So, wie es hier antritt, käme das Quintett auch ganz gut ohne Sebastian Gille aus. Anders, als wenn er beim Pablo Held Trio gastiert, ist seine Rolle hier strukturell unterbelichtet, sie erlaubt - außer einem auch tonlich schönen Solo in "Respirator" - kaum mehr als ein paar Klangfarbentupfer - das einzige Malus in dieser frappierenden Produktion.

erstellt: 23.11.14
ergänzt: 04.12.14
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