ROGER HANSCHEL + AURYN QUARTET Niederschlagsmengen Music for saxophone and string quartet in 7 movements **********
01. Regeneration & Blend (Hanschel), 02. Fundamental Vibration of the Inner Nowhere, 03. Was weite Herzen füllt, 04. Change follows Vision, 05. Söhne, 06. Konstanten, 07. Slow Pulsation
Roger Hanschel - as, Matthias Lingenfelder - v, Jens Oppermann - v, Stewart Eaton - va, Andreas Arndt - vc
rec. 22.-25.09.2013
Tacet 211, LC 07033
Der deutsche Jazz, so träufelt es die gemeine Jazzkritik in unser Ohr, strebt zu neuen Ufern nur mit den jungen; die Altvorderen werden gelobt, wenn sie - wie Heinz Sauer - an der Seite eines jungen (Michael Wollny) erscheinen.
Nichts gegen die Wollnys, die Helds, die Hülsmanns, Landfermanns und Burgwinkels - aber die bestechendsten Aufnahmen der letzen beiden Jahre, Hochplateaus in Konzeption & Technik, stammen von zweien aus der Generation um die 50.
Und beide, Zufall oder nicht, gehören zum Korpus eines lebendigen Toten namens Kölner Saxophon Mafia, der/die wohl die Kraft nicht mehr hatte, seinen/ihren 30. Geburtstag zu begehen. Das war 2012.
Sei´s drum, beide führen die kompositorische Substanz jenes Quartetts an anderen Orten und in anderen Stilistiken fort: Steffen Schorn, z.B. mit dem Norwegian Wind Ensemble, und Roger Hanschel, der - Zufall? - bei den Norwegern den principal soloist gibt, sowie mit dem Jazzrock-Ensemble Heavy Rotation und jetzt erneut mit einem Streichquartett reüssiert.
Und das ist nicht irgendein lokales, sondern eines der besten und ältesten in Deutschland, das Auryn Quartett.
Beide, Hanschel & Auryn, kennen sich seit bald 25 Jahren, seit 1990, als die Kölner Saxophon Mafia („...proudly presents“) einen musikalischen Querschnitt der Domstadt ins Studio lud, vom Karnevalsmusiker und Schwulenchor bis zum Avantgardekomponisten und - dem Auryn Quartett, ein Manifest der Vielfalt, das in der deutschen Jazzszene seinesgleichen sucht.
Es war Roger Hanschel, der seinerzeit das Gemeinschaftsstück komponierte („Tod auf Deutsch“). 1998 präsentierte er eine Komposition für Saxophon und Streichquartett dann in CD-Länge (“Years of the fifth Period“), mit dem Frankfurt Contemporary Quartet, der Steichergruppe aus dem Ensemble Modern.
Wenig später übernahm Auryn dieses Programm auf einer Goethe-Tour durch Südamerika, jetzt hat Hanschel ein siebenteiliges Werk von über einer Stunde Dauer direkt für seine Kölner Kollegen geschrieben.
Der Projekt-Titel birgt Rätsel, ebenso wie der eine oder andere Kompositionstitel, der einer Poetik nachhorcht, die kaum die Empfindungen der Gegenwart spiegelt - der der musikalische Inhalt wiederum in einem Höchstmaß entspricht!
Also, wer die 65:46 Minuten dieses Albums aufmerksam verfolgt hat, der wird „Niederschlagsmengen“ als nichts anderes verstehen als das reine Manna, das vom Himmel gefallen ist. Anders lassen sich Vielfalt, Konzept- und Interpretationsstärke dieses Projektes schwerlich werten.
Zu einer Zeit, da mehrere seiner Kollegen an elektronischen Geräten herumfummeln, mit dünnem Resultat, beschränkt sich Roger Hanschel auf fünf Instrumente, in keiner Form verstärkt oder verfremdet - und bietet Ganz Großes Kino.
Aber welcher Film wird da gezeigt? Welchem Genre gehört er an?
Label und Covergestaltung deuten in die Klassik, die E-Musik. „Niederschlagsmengen“ wird auf einem Label veröffentlicht, für das Auryn Schubert, Schumann und Brahms, viel Beethoven, noch viel mehr Haydn, aber auch Bialas und Britten eingespielt haben.
Nun liegt aber hier ein Partitur auf dem Pult, die - bei allen genre-üblichen Selbstzweifeln - von einem Jazzmusiker stammt. Da läge der Begriff Thirdstream nahe, die berühmt-berüchtigte „Verschmelzung“ von Klassik & Jazz. Und es erschaudert einen geradezu, auch „Niederschlagsmengen“ unter einen Schirm zu führen, der einst für Gil Evans und Gunther Schuller gut behütete. Zumal hier lange Passagen erklingen, wie z.B. in „Konstanten“, die „Jazz“ nicht mal in homöopathischer Dosierung ausstrahlen, selbst dann nicht, als das Altsaxophon zum Streichquartett sich gesellt.
Dem wiederum stehen Momente entgegen, die man vom einem Streichquartett in dieser Beiläufigkeit nicht erwartet hat: im Auftaktstück, „Regeneration & Blend“, nachdem Hanschel in Zirkularatmung Ketten vor einem Schubert´schen Hintergrund geknüpft hat - führt er sein Solo ganz entspannt über 4/4 piccicati fort. Die swingen zwar nicht, sondern werden binär ausgeführt, aber eine Betonung auf der „4“ entspricht sicher nicht unbedingt abendländischer tactus-Lehre.
Da wir gerade bei den Rhythmen in diesem Stück sind: Hanschel schlängelt sich mit den Streichern anschließend durch 7/8, kehrt zu dem Zirkular-pattern vom Anfang zurück und schließt ein 10/4 pattern in bester Minimal-Manier.
Ostinati, häufig in minimalistischer Dichte, über ungeraden Rhythmen und staccato ausgeführt, sind ein prägendes Merkmal mehrerer Sätze dieser Großkomposition. Hanschel als Solist lässt darüber mehrfach den Blues durchschimmern, zweimal auch indische Skalen, „Söhne“ und vor allem in dem Werner Herzog-artig betitelten „Was weite Herzen füllt“.
Es ist, wieder einmal, eine ganze Menge: das Stück startet in melancholische gezogenem legato, aber soviel weiß man inzwischen im dritten track - das wird nicht so bleiben. Die Streicher geben ein stechendes 5/8 staccato vor, und darüber rasen Altsaxophon und eine Violine unisono in einem Affentempo. Ein Schelm, wer dabei nicht an Shakti oder Rudresh Mahanthappa denkt - diese „Niederschlagsmengen“ nehmen es mit deren besten Momenten auf.
Entspannung durch legato. Dann schält sich ein zweites ostinato-Motiv heraus, in 7/4, und Hanschel legt nun alleine los, mit einer wahnsinnigen Mischung aus indischer und Bluestonalität.
Was ist das? Das ist nicht Jazz, das ist nicht Kammermusik, da ist von beidem was verschmolzen (?), kontrastiert (?), das man einstweilen sozusagen nur begriffslos feiern kann.
Ja, doch, es gibt durchaus Sätze, in denen der Schwerpunkt auf Jazz ruht, in denen Hanschel - wenn auch auf höherem Niveau - das tut, was viele andere seiner Kollegen auch tun, wenn sie Streicher beschäftigen: sie im Hintergrund, zur Begleitung halten.
Das ist in „Change Follows Vision“ der Fall, sozusagen eine erweiterte Jazz-Ballade, wo Hanschel kurz, ganz kurz noch ein weiteres handwerklich As antippt, nämlich multiphonics, das Spiel mit Obertönen, und auch ansonsten unfallfrei bis in höchste Lagen steigt.
„Slow Pulsation“ ist noch so ein Jazz-nahes Stück, mit einem „langsamen Ein- und Ausatmen“ des Solisten mit dem Ensemble, wie Odilo Clausnitzer zutreffend in den liner notes beschreibt.
„Fundamental Vibration Of The Inner Nowhere“ gehört zu weiten Teilen dem Auryn Quartett, Roger Hanschel bettet sich ein. Es geht semi-sakral zu wie bei Jan Garbarek. Aber was die Darbietung von einer Weihestunde trennt, ist ein hoher Orgelton. Wenn´s Heiner Goebbels zu romantisch wird, setzt er einen solchen Stör-Ton, meist eine mit Violinbogen gestrichene crotales, dagegen - hier ist ein sehr hoher Violinenton, der beruhigend sagt: wir sind in der Moderne.
Ob das nun Thirdstream ist oder wie oder was: „Niederschlagsmengen“ sind verstörend starke Zeichen von einem Musiker, der aus dem Jazz kommt. Sie sind von einer Fantasie, die (fast) sprachlos macht.
erstellt: 26.06.14
©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten