CHRISTY DORAN/IZUMI KIMURA Glacial Voyage *********
01. Breakwater (Doran, Kimura), 02. Inishkea Islands, 03. High Tide, 04. Belmullet, 05. Whale Tea Party, 06. Downpatrick Head, 07. Light Frames, 08. Moon Pull, 09. Blacksod Lighthouse, 10. Horizon´s Invitation
Christy Doran - g, Izumi Kimura - p
rec. 2024
Between The Lines BTLCHR71254
Christy Doran, 75, ist im Alter von 11 Jahren mit Eltern und Geschwistern von Irland nach Luzern gezogen.
Sein Schwyzerdütsch unterscheidet sich, zumindest für bundesdeutsche Ohren, in nichts von dem geborener Eidgenossen.
Christy Doran dürfte damit den Bonner Philosophen Markus Gabriel heiter stimmen, bestätigt er doch auf´s Feinste dessen anekdotische Evidenz, wonach „jeder Taiwanese ein guter (Bad) Godesberger werden“ könne.
In seinem Heimatort Greystones an der Irischen See, im Rücken die wunderschönen Wicklow Mountains, hält man Doran für einen Schweizer; den lokalen Dialekt versteht er nicht mehr so richtig.
Das ist eine, eine private Erkenntnis aus einem dreimonatigen Aufenthalt 2024 dort, mit dem Ziel, „die Wurzeln aufzufrischen“.
Eine andere ist gleichfalls privaten, ja biografischen Ursprungs - hat aber eine ganz andere Intention. Sie liegt nun öffentlich als Frucht aus einer sehr gelungenen Begegnung vor im Sektor der Free Improvised Music .
Das muss man sich mal vorstellen: in Delgany, zwei km westwärts und schon am Fuße der Wicklow Mountains, befindet sich heute just in dem Gebäude, das einst die Apotheke beherbergte, in der die Geschwister Doran geimpft wurden, das Tonstudio The Meadow.
Nach sechs Jahrzehnten trifft Christy Doran dort aber nicht die Apothekerin von einst, sondern Izumi Kimura, die, 1973 geboren in Yokohama, seit 30 Jahren in Irland lebt und vermutlich ähnlich eine kulturelle Anpassung im Sinne Gabriels vollzogen hat wie Doran.
Izumi Kimura stammt aus der Klassik - kann aber improvisieren. Das hat sie u.a. im Verein mit dem Schlagzeuger Gerry Hemingway (einem Amerikaner in Luzern, der gerne bei seiner Muttersprache verbleibt) und dem britischen Bassisten Barry Guy bewiesen.
Frau Kimura also hört Doran bei einem Trio-Konzert mit Hemingway und dem irischen Bassisten Ronan Guilfoyle und fragt, ob er an einer Duo-Begegnung interessiert sei. Der Gitarrist kennt die Aufnahmen der Pianistin mit Improvisatoren und sagt zu. Die beiden verabreden sich nach einer Probe zwecks Studioproduktion in der Apotheke aka The Meadow in Delgany.
„Wenn ich als kleines Kind gewusst hätte, dass ich da mal solche Musik aufnehmen würde - unglaublich!“ (Doran).Ja, diese Umstände sind unbedingt erzählenswert, diesem Narrativ kann sich niemand erziehen - und doch „erzählt“ die Musik rein gar Nichts davon.
Sie hätte auch überall sonst entstehen können.
Der Titel des Projektes führt erst recht in die Irre: wie die MusikerInnen, der Produzent (Hemingway als Co-Produzent) sowie das Label auf „Gletscherfahrt“ (Glacial Voyage) kommen konnten, ist völlig rätselhaft.
Auch Brian Morton, der Autor der liner notes, schwankt hin und her. Er geht kaum auf die Musik ein, erzählt von der Begegnung zweier namenloser Verliebter; vermutlich spielt er an auf die irische Love Story in „Once“ (2006), dem überaus reizenden Filmdrama von John Carney, dessen Protagonisten auch namenlos bleiben.
„Solche Musik“ (Doran) ist nämlich ortlos.
Ihr außerordentlicher Reiz besteht auch darin, dass sie sich allen Zuweisungen auf Nicht-Musikalisches entzieht.
Ein klein wenig ahnt dies auch der Pressetext zum Album:
„Einen roten Faden signalisieren die Titel der Tracks: Meer und raue Küste, die Gezeiten, das Zusammenspiel der Elemente - die Faszination der unzähmbaren Kräfte, die eine ewige Inspiration sind“ liest man da zunächst, als handele es sich um einen Fotoband.
Aber, „tatsächlich wurden diese Titel erst nachträglich gewählt“, heisst es im nächsten Satz.
Eben. Man hätte die Stücke auch schlicht durchnummerieren können - ohne ihnen auch nur einen Hauch ihres Charakters zu nehmen.
Doran & Izumi sind nämlich zehn Charakterstücke gelungen, durch Improvisation (und sicherlich nachträgliche Schnitte. Über „Light Frames“ heisst es schließlich, „arranged by Gerry Hemingway“. Und da hier nichts, wie im konventionellen Arragement, „umgeschrieben“ werden konnte, dürfte hier gemeint sein, dass Hemingway spontan entstandene Formteile umgestellt hat.)
In „Light Frames“ z.B. sind die Instrumente und ihre Effekte klar zu identifizieren.
Das ist nicht immer der Fall. Und eben auch das trägt zum Reiz dieser Produktion bei. Denn hier malen nicht E-Gitarre und Piano in ihren konventionellen Klangfarben, sie schmiegen sich nicht an. Beide schwelgen geradezu in extended techniques, wozu auf Dorans Seite ein ganzes Arsenal an Effekten gehört (viel Ringmodulator und reverse sounds); auf Kimuras Seite selbstverständlich das präparierte Piano in diversen Varianten.
„Glacial Voyage“ aber wäre völlig missverstanden als Paradesammlung von Instrumententechnologie. Sein allergrößter Reiz äußert sich im strukturellen Denken & Handeln zweier hellwacher Köpfe, die bei aller Spontaneität großes Formbewußtsein demonstrieren.
Christy Doran sagt über Izumi Kimura: „Sie ist klassisch ausgebildet. Beim Improvisieren merkt man den Sinn für das Kompositorische. Sie checkt immer, wie sie eine Form entwickeln kann.“
Das kann der Hörer - fasziniert - mitverfolgen. Und nicht eine fiktive Gletscherfahrt in einem Land, in welchem vielleicht 50 km weiter südwestlich tatsächlich Palmen die Uferpromenaden säumen.
erstellt: 05.06.25
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