LUCIA CADOTSCH Speak Low II ********

01. Azur (Ellington), 02. I think it ́s going to rain today (Randy New-
man), 03. What ́s new/There comes a time (Burke,Haggart/Tony Williams), 04. Wild is the Wind (Ned Washington, Dimitri Tiomkin), 05. By this River (Eno, Möbius, Roedelius), 06. Black is the Color of My True Love ́s Hair (trad), 07. Ballad of the drowned Girl (Weill, Brecht), 08. So long (Lani Hall, Neil Larsen), 09. Speak Low (Weill, Ogden Nash)



Lucia Cadotsch - voc, Otis Sandsjö - ts, Petter Eldh - b, Kit Downes - org (1,4,6,7), Lucy Railton - vc (6,7)

rec. 2020 (?)

We Jazz Records WJCD30

Standards sind die lingua franca des Jazz.
Die ewige Dialektik aus Bestätigen und Infragestellen des Vertrauten schafft Raum für zahllose Möglichkeiten, der Bedarf der Jazzwelt an solchen Variationen erscheint unersättlich.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Lucia Cadotsch, Schweizer Sängerin, die in Berlin lebt, in dieser sich ständig ausweitenden „Kampfzone“ einen spezifischen Platz einnimmt.
Das tut sie nicht allein. Dieser Platz ist undenkbar ohne die Mitwirkung zweier schwedischer Instrumentalisten (beide aus Göteborg, ohne sich dort je begegnet zu sein), die gleichfalls in Berlin leben: Petter Eldh, vermutllich der den europäischen Jazz der letzten Jahre am meisten prägende Bassist.
Sowie Otis Sandsjö, dem es gelungen ist, aus den zahllosen Tenorsaxophonstimmen wiederum der europäischen Jazzgegenwart hervorzustechen; bei weitem nicht so virtuos wie Marius Neset, aber mit einem verwandten Vorrat an erweiterten Instrumental-
techniken, als da sind multiphonics, Zirkularatmung, Flatterzunge, jüngst auch gleichzeitiges Singen und Spielen ins Horn („Ballad of the drowned girl“).
Die Attraktion der Standards-Bearbeitungen dieses Trios liegt in der geradezu plakativen Rollenzuweisung. Lucia Cadotsch hält die Verbindung zu den Vorlagen, sie agiert quasi als anchorwoman, um sie herum diffundiert vieles in andere Räume.
Während etwa ein Django Bates in vielen seiner Standards-Bearbeitungen keinen Stein auf dem anderen belässt („arranging the hell out of something“), rührt dieses Trio das Allerheiligste nicht an.
 Zwar verändert Lucia Cadotsch hier und da einen Ton - die Textfolge aber ist tabu, auf deren Chronologie kann man sich verlassen.
Sie singt in einem Temperament, das man durchgängig als kühl, distanziert, ja geradezu als stoisch bezeichnen kann. Lucia Cadotsch ist die Stoikerin unter den europäischen Jazzsängerinnen.
Sie klingt, als habe sie insbesondere die Affektenlehre der Stoa inhaliert, wonach man sich gerade von selbigen nicht hinreißen lassen sollte. Würden einmal die „Selbst-
betrachtungen“ des Marc Aurel für einen Jazz-Zugriff geplant sein, fände man in ihr die ideale Besetzung.
„Speak Low II“ ist zugleich eine Bestätigungdes Debüts von 2015 wie auch eine Erweiterung. Es zeigt aber auch Grenzen des Konzeptes.
cover speak low IIDie Erweiterung lässt sich vordergründig schon personell ablesen.

Kit Downes ist an vier tracks beteiligt, als Organist, und eine enorme Bereicherung (allein seine Coda in „Wild is the Wind“ mit ihren dunklen Tupfern & Tropfen bedeutet schon mal die halbe Miete).
Lucy Railton, in etlichen Projekten ihm - instrumental - verbunden, erscheint allein schon numerisch weniger prägend.
Ihr Haupteinsatz erfolgt in Renaissance-verwandter Diktion in „Black is the Color of My True Love ́s Hair“.
Dieses der Apalachen-Folklore zugeschriebene Volkslied, das tatsächlich viel älter ist und aus Schottland stammt, steht einerseits für die Erweiterung des Repertoires (nicht mehr nur Jazz-Standards), zugleich aber auch für das Exquisite dieser Auswahl.
Das Trio (in diesem Falle das Quintett) gibt an, hier von Luciano Berio (1925-2003), einem italienischen Fürsten der Neuen Musik, inspririert worden zu sein. Und in der Tat, die Verwandtschaft zu dessen Interpretation im Rahmen seiner „Folk Songs“ (1964) will nicht aus den Ohren weichen. Den damaligen Violinenpart übernimmt hier das Cello, die sozusagen „verwaschene“ Perspektive ist ähnlich der von Berio, klingt aber anders.
Zwei der Stücke hat auch David Bowie gesungen. 1981 das schon erwähnte „Wild is the Wind“, das ebenso auf manuelle Clubmusic-Anspielungen verzichtet (die auf dem Debüt 2015 dominieren) wie „Ballad of the drowned girl“ aus „Baal“ von Bert Brecht & Kurt Weill, von Bowie 1982 aufgegriffen.
Pop ist neu in der Auswahl: „I think it´s gonna rain today“ von Randy Newman (1968). „So long“ von Lani Hall, in Europa wenig bekannt, trotz ihrer Mitwirkung als Sängerin bei Herb Alpert (mit dem sie verheiratet ist), von Sergio Mendes & Brazil 66 ganz zu schweigen.
Geradezu eine Veredelung gelingt dem Trio mit „By this River“, aus Eno´s Album „Before and After Science“ (1977), zusammen mit dem deutschen Elektronik-Duo Cluster; im Original ein Wässerchen, für das man viel Wohlwollen erübrigen muß.
Ja, das alles sind Preziosen, sehr luzide Auseinandersetzungen mit Vorhandenem, mit großer Aufmerksamkeit sowohl für das Detail als auch die Form. Und dabei darf der größte Coup auf keinen Fall überhört werden:
nämlich wie das Kerntrio den alten Jazzstandard „What´s New“ (1939) in drei Sektionen gliedert, jeweils in „bewährter“ Technik der handgemachten loops von Tenorsaxophon und Kontrabaß.
Und wie es dann, im dritten Teil, fast unbemerkt motivisch den Groove wechselt - und textlich mit der Titelzeile von Tony Williams´ „There comes a Time“ fortfährt!
Ja, der Meister-Drummer hat auch gesungen. Schon 1969 auf dem explosiven „Emergency!“; sein bekanntester, am meisten gecoverter Song stammt aus dem Album „Ego“, 1971, nämlich „There comes a Time“.
Beide Songs lassen sich auch inhaltlich verbinden: „What´s New?“ erkundigt sich nach dem Befinden des früheren Liebespartners, in einer Zeile von „There comes a Time“ heisst es „I love you more when it´s over“.
Wie gesagt, loops sind nach wie vor vorhanden, der Anteil der manuellen Nachahmungen von Momenten der Clubmusic ist zurückgeschnitten, es gibt mehrere rubato Passagen, die Instrumentalisten exponieren sich deutlicher.
Aber, wir sind nun mal im Jazz, und da darf man auch fragen: wieso, wenn alle ihre Posten verlassen, tut dies die Sängerin nicht?
Lucia Cadotsch verharrt stoisch in ihrer Rolle, egal in welchem Song, sie gestattet sich nur geringe Variationen der Expression.
Hier scheint das Konzept an seine Grenzen zu geraten.

erstellt: 22.11.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten