KEITH JARRETT Budapest Concert *******
CD 1
01. Part I (Jarrett), 02. Part II, 03. Part III, 04. Part IV
CD 2
01. Part V, 02. Part VI, 03. Part VII, 04. Part VIII, 05. Part IX, 06. Part X, 07. Part XI, 08. Part XII - Blues, 09. It´s a lonesome old Town (Tobias, Kisco), 10. Answer me, my love (Winkler, Rauch)
Keith Jarrett - p
rec. 03.07.2016
ECM 2700/01
Dieses Doppelalbum bietet sich an, noch einmal eine Beobachtung von Peter Elsdon heranzuziehen, dank seines Buches über das Köln Concert einer der profundesten Kenner des Werkes von Keith Jarrett:
„Es fällt ja auf: fast jedes Jarrett-Konzert, das veröffentlicht wird, wird von einer Geschichte begleitet, aus welchen Gründen dieses Konzert ein besonderes war“
(aus einem Radiointerview mit MR).
Die Erzählung dieses Konzertes in der Bela Bartók Concert Hall entbehrt allerdings der von Elsdon gemeinten Dramatik. Vom Ereignis selbst ist nichts Aufregendes überliefert; wohl aber, dass es sich wie ein „Homecoming“ angefühlt haben soll. Was man bei einem Künstler mit ungarischen Wurzeln gut nachvollziehen kann.
Dass Keith Jarrett selbst seine Performance als „Goldstandard“ bewertet, fällt für die Rezeption bei Publikum + Kritik schon mehr ins Gewicht. (Jeder Einwand muss abprallen an der großen Münze, die der Künstler dafür selbst geprägt hat.)
Den Geltungsbereich von Elsdon´s „Geschichte“ muß man deshalb verlagern, weg von der Konzert-Aufnahme, hin zu ihrer Veröffentlichung auf Tonträgern, insbesondere auf deren Zeitpunkt.
„Budapest Concert“ nämlich kommt nur Tage später auf den Markt, der noch aufgewühlt ist von der Nachricht, dass der Künstler infolge zweier Schlaganfälle künftig wohl kaum wieder vor ein Publikum wird treten können.
Beide Ereignisse sind unterfüttert von Selbsteinschätzungen, die ob ihrer Maßlosigkeit in der Jazzgeschichte kaum je übertroffen worden sein dürften.
Die Bewertung „Goldstandard“ erscheint darunter noch als die niedlichere gegenüber derjenigen, die in der Mitteilung über seinen aktuellen Gesundheitszustand enthalten ist (und die in der Jazzwelt lammfromm einfach weitergereicht wurde). Ja, genau, die Passage, wo Jarrett sich zum John Coltrane der Klavierspieler stilisiert und die gesamte Kollegenschaft nach ihm zu (seinen) Epigonen.
Damit übertrifft er sein eigenes, lange gültiges Ende der Fahnenstange aus dem berühmten Spiegel-Interview 1992, worin er sich von seinem Bestseller Köln Concert distanziert, mit der Empfehlung „alle Aufnahmen einstampfen“.
Nun also eine Aufnahme bewerten, die der Künstler selbst als „Goldstandard“ empfindet.
„Budapest Concert“ ist zwei Wochen vor „Munich 2016“ entstanden.
Und der formale Vergleich, allein das Beschreiben des äußeren Rahmens, ist aufschlußreich.
Beider Repertoire besteht aus zwölf einzelnen Stücken, wobei das längste jeweils um die 14 Minuten dauert; es handelt sich um den Eröffnungstrack.
Der Begriff „Repertoire“ dürfte bei einigen Hörern Widerspruch auslösen:
darf man/kann man den Begriff bei einem Pianisten verwenden, der doch immer „nackt“ von sein Publikum tritt, jedenfalls immer das free playing pflegt, mit einem „musikalischen Gedächtnis ohne Erinnerung“, wie sein Biograf Wolfgang Sandner die Legende fortzuspinnen pflegt?
Als Zugabe wählt Jarrett Standards; sowohl in Budapest als auch in München „It´s a lonesome Old Town“ und „Answer me, My Love“; in München fügt er noch „Somewhere over the Rainbow“ an.
Berücksichtigt man, dass er in den Hauptteilen, in den „freien Improvisationen“, auch jeweils einen Blues in klassischer Form spielt, dass sich obendrein je auch ein Stück findet, das nach „Standard“ klingt, ohne es zu sein - dann schält sich eine verwandte Performance-Struktur heraus, die die Leitidee von der absoluten Voraussetzungs-
losigkeit des Vortrages wesentlich relativiert.
Aufgemerkt! Die Rede ist hier von formalen Verwandtschaften, nicht von Identitäten des Materials.
Sowohl in Budapest wie wenig später auch in München sind „Part I“ jeweils die längsten Stücke und von einem „Suchen“ geprägt. Beide enthalten ostinate Läufe, oft klein-motivisch in Korrespondenz zwischen linker und rechter Spielhand.
In München aber beendet Jarrett diesen Vorgang bei 6:21 ziemlich abrupt und fährt mit einem Groove fort. In Budapest taucht dieser, recht Gospel-verwandt, erst in „Part IV“ auf. In München ist „Part IV“ - ebenfalls ein Gospel.
Im Gegensatz zu Budapest steht der in München von Anfang an fix & fertig da. In Budapest braucht Jarrett einige Zeit, um eine Figur im tiefen Register zu etablieren, bevor sich rechts ein genre-typisches Thema darüber legen kann.
Damit folgt er in der Bartok Hall einer gewissen Logik aus „Part III“. Darin hat die rechte Hand viel zu tun, linke ruht häufig, „kommentiert“ größtenteils lediglich mit dissonantem Grummeln. Das Stück entbehrt zudem jeder Metrik, es ist schwerlich auch als rubato zu bezeichnen.
Früher, zwei Jahrzehnte und mehr zuvor, hätte Jarrett aus dieser langen, a-rhythmischen Passage spannungsreich in den suggestiven Groove von „Part IV“ herübermoduliert, zu Zeiten seiner lang ausgespielten Bögen, seiner „Piano-Predigten“.
In Budapest öffnet er dem Publikum ein Fenster und gibt Raum für - prasselden - Beifall.
Damit wir uns nicht mißverstehen: es gibt Preziosen hier, gute Momente, aber ob sie auch reichen, um aus Nicht-Künstlerperspektive ebenfalls von „Goldstandard“ zu sprechen, mithin also von deutlichem Abstand, bespielsweise zu „München 2016“?
Budapest „Part X“ ist eine solche Preziose; man meint, in schönster Übereinstimmung mit einer weit-verbreiteten Improvisations-Auffassung, dem Künstler beim Finden neuer Ideen beiwohnen zu dürfen.
Über lange Strecken pendelt Jarrett zwischen zwei Akkorden der linken Hand und malt, mitunter erfreulicherweise nicht fehler-frei, mit der rechten eine Landschaft, in der er zur Hälfte ganz kurz Steine abtastet, die von der Gestalt her Eddie Harris´ „Freedom Jazz Dance“ ähneln.
Das Entzücken darüber teilen wir gerne mit dem Künstler.
Aber unseren eigenen „Goldstandard“ würden wir in seinem weit verzweigten Werk (das ja noch lange nicht abgeschlossen ist) vermutlich woanders finden.
erstellt: 04.12.20
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