LUCIA CADOTSCH Speak Low *********
01. Slow Hot Wind (Mancini, Gimel), 02. Speak Low (Weill, Nash), 03. Strange Fruit (Allen), 04. Ain´t go no, I got Life (Macdermot, Radio, Ragni), 05. Don´t explain (Holiday, Herzog), 06. Deep Song (Cory, Cross), 07. Some other Spring (Herzog, Kitchings), 08. Willow weep for me (Ronell), 09. Gloomy Sunday (Seress, Javor, Lewis), 10. Moon River (Mancini, Mercer)
Lucia Cadotsch - voc, Otis Sandsjö - ts, Petter Eldh - b
rec. 17.-19.08.2015
ENJA/Yellowbird YEB 7761
Schneeweiss + Rosenrot - „isch over“, wie Wolfgang Schäuble es ausdrücken würde, im breiten Dialekt des Kinzig-Tales.
Das Ende der Band muss man nicht weiter bedauern, ein solches Programm ist nicht Dekaden-füllend. Das Quartett hat die Abteilung „Jazzmusiker spielen Pop“ um ein schönes Kapitel bereichert, jetzt lassen seine Mitglieder den Funken anderswo zünden.
Johanna Borchert, p, wandert in amerikanischen Schuhen einher, deren Größe noch nicht recht angepasst scheint (wie man bei zwei Moers-Festival-Auftritten feststellen konnte). Petter Eldh ist zum derzeit meistbeschäftigen Bassisten in Europa emporgeschnellt; wo
er auftaucht, lässt sich musikalischer Wandel ablesen
Marc Lohr, dr, den man eher wenig auf dem Monitor hatte, wird in Kürze bei LIUN + The Science Fiction Band, einer „bombastischen SynthiePopBand“, auftauchen - schreibt Lucia Cadotsch.
Die Sängerin sieht darin und in „Speak Low“ die Fortsetzung von Schneeweiss + Rosenrot, „geteilt in 2 Bands“.
Das können wir (noch) nicht nachvollziehen, wohl aber dass es sich um ein weiteres Produkt aus dem polyglotten und in dieser Hinsicht äußerst fruchtbaren Berlin handelt (an dem nun nicht mal mehr ein Deutscher beteiligt ist).
„Speak Low“, nomen es omen, das Projekt signalisiert mit dem bekannten Song aus Kurt Weill´s Musical „One Touch of Venus“, 1943, („Venus macht Seitensprünge“) seine Richtung: Bearbeitungen von Standards.
Dabei lässt sich das Trio im Pressetext zunächst einmal eine Hör-Warnung basteln, wie sie deplazierter nicht sein könnte: „...jeder Versuch, sich der Musik von Speak Low analytisch zu nähern, muss an den Klippen der Langeweile zerschellen.“
Einmal abgesehen von der aberwitzigen Metapher („Klippen der Langeweile“) - wer ein solches Programm ausgibt, erzeugt geradezu die Pflicht, es analytisch zu hören. Man will doch wissen: was macht dieses Trio anders als tausende, die vor ihm schon an den alten Knochen genagt haben?
Fangen wir mit dem Titelstück/dem Bandnamen an: Weill´s Ballade gehen die drei in einem Affentempo an, „leise spricht“ allenfalls Lucia Cadotsch, Sandsjö und Eldh unterlegen ihr einen treibenden ostinato-Teppich. Und stellen damit das assett dieser Produktion heraus, es springt das analytische Ohr sogleich an: ostinatos und riffs und vamps werden gespielt, als handele es sich um loops, also technisch vermittelte Wiederholungsformen.
Sind sie aber nicht. Alles, was hier wieder & wieder auf Anfang geht, ist Resultat von Handarbeit. Und die ist so gediehen, dass man im Falle Otis Sandsjö durchaus von SNTS sprechen darf, von Scandinavias Next Top Saxophonist, nach Marius Neset.
Zirkularatmung, multiphonics, Flatterzunge, Klappengeräusche, ja auch Zweistimmigkeit - Sandsjö hat alles drauf. Er ist von Jahrgang 1987, damit noch einmal 4 Jahre jünger als Eldh, er kommt wie jener aus Göteborg (wo sie sich nicht begegnet sind), hat aber wie jener auch am Rhythmic Music Conservatory in Kopenhagen studiert, einer der Kaderschmieden des europäischen Jazz.
Sandsjö & Eldh sind betörend, man muss sich nur mal den extrem nach Holz klingenden Kontrabass anhören, das einem Heinz Sauer kaum nachstehende dunkle Wimmern und Schreien auf dem Tenor - so hat man Billie Holiday´s „Strange Fruit“ noch nicht gehört.
Oder nehmen wir den opener, „Slow Hot Wind“ von Henry Mancini, von dem auch ein schönes YouTube-Video existiert: die Dichte, rein aus akustischen Instrumenten gewonnen, mit Hilfe überragenden Handwerks, sie ist frappierend.
Obenauf die Stimme von Lucia Cadotsch, sie hat sich eine Direktheit, fast mädchenhafte Klarheit erhalten, sie tritt nicht als Vokalistin hervor. Hayden Chisholm (für den sie ein Standards-ähnliches Programm singt), charakterisiert ihre Qualität mit „subtlety and understatement“, er spricht auch von „grace“, also Grazie oder Anmut. Und die kolorieren ihre Rolle als Anker der Tradition in einem Repertoire aus Tradition, in dem sonst nichts mehr an seinem Platz bleibt.
Es ist nicht bekannt, ob dieses Trio Django Bates´ Motto „arranging the hell out of something“ kennt („Standards gegen den Strich bürsten“) - es entspricht ihm auf´s Beste.
Und zeigt, dass die Transformation der Tradition in die „Gegenwart“ nicht in Avantgarde-Krampf versinken muss, sondern erstrahlen kann. In Schönheit.
erstellt: 03.03.16
©Michael Rüsenberg, 2016. Alle Rechte vorbehalten