MARC COPLAND John *******
01. Timeless (Abercrombie), 02. Isla, 03. Flip Side, 04. Sad Song, 05. Avenue, 06. Sunday School, 07. Remember Hymn, 08. Love Letter, 09. Vertigo
Marc Copland - p
rec. 11.-12.11.19
Illusions Mirage IM 4005
Ja, so könnte es weitergehen: indem Marc Copland Kompositionen seiner Freunde
auf das Format Solo-Piano herunterbricht - was sich sprachlich entsetzlich unpoetischer ausnimmt als die klingenden Resultate.
Begonnen hat er die (erwünschte) Serie 2018 mit „Gary“ Peacock (1935-2020), dem Bassisten, dem er seit 1983 verbunden war.
Nun also „John“ Abercrombie (1944-2017).
Den kennt er noch länger, nämlich seit 1971, seit gemeinsamen Tagen im Quartett von Chico Hamilton; zum letzten Mal waren sie im Dezember 2016 gemeinsam auf Tournee.
„Ich lernte ihn kennen, als ich sehr jung und ambitioniert war; seine musikalische Integrität, seine Aufrichtigkeit sowie seine Verachtung für das Drum und Dran des Musikbusiness haben mich nachhaltig beeindruckt“.
Copland´s Selektion aus dem riesigen Abercrombie-Katalog ist sehr speziell.
Das, wonach wohl die meisten sich sehnen, nämlich „Ralph´s Piano Waltz“, aus dem prägenden Abercrombie-Album „Timeless“, 1974, mit Jack DeJohnette und Jan Hammer, verweigert er uns.
Er beginnt stattdessen mit dem Titelstück jenes Albums.
Und auch da hält er uns erst mal hin: nach einem langen Intro pausiert er mehrere Sekunden lang, bevor er - erlösend - das ostinato-Thema jenes in der Tat „zeitlosen“ Stückes erklingen lässt.
Wie überall wählt er Umwege und Durchgangs-
akkorde, bevor er die Hauptsache ausspricht.
Auf diese Art schafft er sich in „Timeless“ Raum, um kurz eine Ahnung von „A Love Supreme“ aufscheinen zu lassen.
Während Copland die Kompositionen von Gary Peacock, in einem gemeinsamen Interview kurz vor dessen Tod, als „Haikus“ charakterisiert, fällt es schwer, die Werke von John Abercrombie auf einen so kurzen wie treffenden Nenner zu bringen.
Mindestens drei Walzer sind in dieser Selektion sowie Stücke in unüblicher Form („Vertigo“ aus Abercrombie´s „39 Steps“ in einer Taktfolge von 39 Beats, was überhaupt erst die Hitchcock-Referenz begündete; die jeweils letzten 8 Takte wiederum in Walzer-Form).
Nicht zu unterschätzen die Leistungen des Arrangeurs Copland.
Im Gegensatz zum überwiegenden Charakter dieser Tätigkeit als ein Ausweiten und Ausschmücken, muss der Pianist hier, bevor er seinerseits Schattierungen zeichnen darf, erst mal reduzieren.
Das kann durchaus drastische Eingriffe erfordern, wie am Beispiel von „Remember Hymn“ aus dem Abercrombie-Album „Getting there“, 1987, ein Requiem für den bei einem Autounfall in der DDR verstorbenen Perkussionisten Collin Walcott (1945-1984). Ein Vorschlag für diese Session von Abercrombie´s Schwager sowie vom Produzenten des Albums, Philippe Ghielmetti.
Das Original, mit dem Tenorsaxophon von Michael Brecker über mächtigen Synthesizer-Flächen, stellte Copland vor nicht geringe Probleme. Ghielmetti wußte Rat: „Vergiss´ das alles!“
Selbst eine (fast) Ersteinspielung ist dabei: „Love Letter“ aus dem Repertoire von Abercrombie´s letztem Quartett und von diesem nie aufgenommen.
Nach seinem Trio-Album „And I love her“ (2017) packt Marc Copland es nun zum zweiten Male an.
Das Album schließt mit dem erwähnten „39 Steps“, das Copland erlaubt, seine ganze Kunst des Fabulierens, der viefältigen Zwischenbemerkungen, der Abstufungen und Schattierungen zu entfalten.
John Abercrombie hat ihm hier ein Haiku hinterlassen, beinahe so pointiert wie die von Gary Peacock.
erstellt: 14.12.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten