JOHN SCOFIELD/BILL STEWART/STEVE SWALLOW Swallow Tales ********
01. She was young (Swallow), 02. Falling Grace, 03. Portsmouth Figurations, 04. Awful Coffee, 05. Eiderdown, 06. Hullo Bolinas, 07. Away, 08. In F, 09. Radio
John Scofield - g, Bill Stewart - dr, Steve Swallow - bg
rec. 03/2019
ECM 2679
John Scofield auf ECM.
In der Tat, das kann erstaunen. Aber, dass es sich dabei um dessen „debut as a leader“ auf diesem Label handele, wie eine Londoner Kritikerin nahelegt, stimmt nicht.
Scofield hat ein in der Tat in London 2004 mitgeschnittenes Konzert auf jenem Label herausgebracht: „Saudades“ mit dem Trio Beyond (Scofield, Larry Goldings, Jack deJohnette), ein Tony Williams-Tribut, genauer: ein Tribut an desssen Emergency-Trio, eines der energischsten Trios aller Zeiten.
„Swallow Tales“, once again auf demselben Label, teilt so gut wie nichts mit „Saudades“ - ist aber gleichfalls ein Tribut. Eine Verbeugung vor Steve Swallow (am 4. Oktober wird er 80!) respektive seinen Stücken.
„Die meisten dieser Songs kenne ich seit vierzig Jahren und mehr. Sie waren ein fester Bestandteil des Repertoires der Berklee-Studenten, vorgelegt von Gary Burton, der bei der Gelegenheit Swallow gleich mitbrachte. Ich war Student in Berklee. Ich war zwanzig, als ich Steve kennenlernte, und seitdem spielen wir zusammen. Er war (und ist) ein Mentor für mich und zahllose andere auch. Ich liebe diese Songs. Für sind sie Standards geworden und ebenso für viele andere Jazz-Nerds, die sich daran erprobt haben“, schreibt John Scofield in den liner notes.
Jazz-Nerds, ein modisch verwackelter Begriff für all die Großen und Kleinen, die sich dieser Aufgabe gestellt haben, von Stan Getz bis Pat Metheny, von Kip Hanrahan bis Jimmy Earl.
„An einem Nachmittag“ im März 2019, wie Scofield weiterhin schreibt (die liner notes geben keine genauere Auskunft), trifft er sich in einem Studio der New York University mit den beiden, mit denen er seit 1993 im Trio oder in erweiterter Besetzung vertraut ist. Die Produktionsmethode: „very old school“, wie Scofield selbst sie einstuft.
Und sie lassen´s dann auch gediegen angehen, so gediegen, dass man sich für wenige Minuten zu „Country for Old Men“ zurücksehnt, wo sich der Titel rasch als ironisch und keineswegs als Beschreibung des Inhaltes entpuppt.
„She was young“, ein Walzer, den Steve Swallow erstmals 1979 auf seinem Album „Home“ veröffentlicht, macht den Auftakt.
Das Stück in gemächlichem Tempo dauert knapp 10 Minuten, Scofield stellt viel Oktav-Technik a la Wes Montgomery aus, Swallow spinnt wie üblich in einem Solo das Thema fort, in dem ihm klassischen Stil & Sound (mit Plektrum statt Daumen- und Fingertechnik, nichts scheint hier weiter entfernt als der harte Anschlag des slap).
Man möchte schon zum nächsten Stück skippen - da kommt mit einem Mal (um mit Daniel Martin Feige zu sprechen) die „retro-aktive Ästhetik“ der Improvisation in John Scofield´s Solo zum Tragen. Ab 6:15 erhöht er den Anteil der blue notes beträchtlich, man hört leise shouts von den Saiten, Blues-Phrasen, Blues-Stottern, die Rhythmus-
gruppe wird ebenfalls expressiver - und schon hört man anders, schon ergibt sich für alles
zuvor ein anderer Sinn.
„Falling Grace“, wohl das bekannteste Stück Swallow´s läuft - auch dank von Bill Stewart´s filigranen Figuren auf dem ride cymbal - wie am Schnürchen.
Und dann kommt „Portsmouth Figurations“.
Und man fragt sich, warum sind die drei nicht mit dieser Tür ins Haus gefallen?
Das Tempo wird auf fast swing erhöht, man erlebt eine der prototypischen Rhythmusgruppen des Jazz, und John Scofield ist so was von hellwach an Deck, dass er sich erlauben kann, einzelne Töne seiner Ketten einfach mal umzudrehen.
Bill Frisell nutzt die technische Vorrichtung, Töne rückwärts laufen zu lassen, von früh bis spät, aber nie in einem solchen Tempo und nie in einer solchen Beiläufigkeit wie hier John Scofield.
(Auf „Saudades“, 2004 macht er das auch, aber nicht in dieser Kunstfertigeit.)
„Awful Coffee“, ein langsamer Shuffle, mit einem stark interagierenden Bill Stewart bestätigt, ganz nebenbei, die Erkenntnis aus der Rezeptionsästhetik, dass Musik Ekel nicht darstellen kann - „nice cup of coffee“ würde zu diesem Geschehen, inklusive tradin fours, genau so gut passen.
„Eiderdown“ ist eines von drei uptempo swing Stücken (mit „In F“ und „Radio“) bis zum Schluss des Albums, wobei „In F“ noch einmal die wunderbare snare-Technik von Bill Stewart herausstellt.
Ja, ja, ja, das alles ist - wie John Scofield selbst die Richtung vorgibt - „very old school“.
Wir werden Zeugen von der großen Fabulierkunst dreier Musiker auf Grund maßvoller Vorgaben, von ihrer Kunst der Beiläufigkeit, die Dinge einfach mal laufen zu lassen - und in dem Wissen, in diesen „Erzählungen“ jede Menge nuggets versteckt zu haben.
Man muss sie nur hören (können)!
erstellt: 17.06.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten