ESPERANZA SPALDING Songwrights Apothecary Lab ********

01. Formwela 1 (Spalding), Formwela 2, 03. Formwela 3, 04. Formwela (Spalding, Corey King), 05. Formwela 5 (Spalding), 06. Formwela 6, 07. Formwela 7, 08. Formwela 8 (Genovese), 09. Formwela 9 (Genovese, Spalding), 10. Formwela 10 (Spalding), 11. Formwela 11 (Matthew Stevens, Genovese), 13. Formwela 13 (Spalding)

Esperanza Spalding - b, p, voc, dr (13), Leo Genovese - p (1,3,7,8,9,10,11,13), Corey King - g, voc (4), voc (5,6), Phoelix - ep, voc (1,8), keyb (3), Matthew Stevens - g (7,8,9,10,11,13), Aaron Burnett - sax (7,9,11,13), Francisco Mela - dr (7,8,10,13), Justin Tyson - dr, perc, voc (3), Wayne Shorter - ss (3), Ganavya Doraiswamy - voc (2), Thrive Choir - voc (1,2), Shamell Bell, Gretchen Parlato, Luke Titus - voc (8), James Greeley - bone whistle (2)

rec. 2021 (?)

Concord

Dieses Album ist nun wirklich ein spezieller Fall.
Seine Musik hat, wie jede Kunst, Vorläufer & Verwandte. Zu letzteren gehört Terri Lyne Carringtons Album „Waiting Game“ (2019)
Beide verbindet weniger stilistische als vielmehr personelle Bezüge: Spalding und Stevens sind auch dort beteiligt.
Beide hantieren schon in der Titelei mit außer-musikalischen Ansprüchen: Terrington nennt ihre Band Social Science, Esperanza Spalding tauft ihr Projekt noch mutiger Songwrights Apothecary Lab, worunter man nicht ganz fälschlich „Songwriter-Apotheken-Labor“ oder auch „Songwriter-Apotheker-Labor“ verstehen muss.
Nun, wir sind im Jazz, und da lehrt die Erfahrung: Obacht, ob uns nicht wieder ein Soufflé vorgesetzt wird.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: in der Sache selbst, musikalisch, handelt es sich um je überdurchschnittliche Projekte.
Nur fällt ihr gedanklicher Überbau rasch zusammen.
Bei Carrington markiert durch zwei Sätze, die einander widersprechen:
„Music transcends, breaks barriers, strengthens us, and heals our wounds. Music is Social Science“.
Der erste Satz wird Frau Spalding sehr gefallen, ein Gedanke daraus (das Heilen durch Musik, ein langjähriger topos insbesondere der afro-amerikanischen Fraktion, spätestens seit Albert Aylers „Music is the Healing Force of the Universe“, 1969) dient ihr nämlich als zentraler Impuls des neuen Albums.
Die gerade für deutsche Ohren schul-medizinischen Assoziationen des Albumtitels (Apotheke, Laboratorium), die zu dieser Tradition nicht zu passen scheinen, sie führen aber keineswegs in die Irre. Die Bassistin erklärt gern und ausführlich, wie sie sich auf die Songs mit Hilfe von Wissenschaftlern vorbereitet hat. Als Harvard-Professorin, die sie seit 2018 ist, sollten ihr diese Kontakte nicht schwer gefallen sein.
Concord Records informiert darüber folgendermaßen:
„Das Songwrights Apothecary Lab ist ein kuratiertes Portal für neue Arbeiten, die aus Spaldings kollaborativer Praxis der letzten Jahre hervorgegangen sind und erforschen, wie Songwriter therapeutische Praktiken und Wissen sinnvoll in ihren Prozess und ihre Produktion einbeziehen können“.
Unter uns: diese Worte, und noch mehr die der Künstlerin in ihren Interviews, bringen zwar reihum KritikerInnen ins Verzücken, die nun ihrerseits unrealistische Vorstellungen über Musiktherapie weitertragen (topping the bill die SZ: „Das tiefe E auf dem Kontrabass löst beispielsweise Schmerzen“). Aber wie jede Kunst lässt sich auch „Songwrights Apothecary Lab“ (wie nun wirklich alle von Hans-Magnus Enzensberger bis Markus Gabriel predigen) ohne und gegen die Intentionen ihrer Schöpferin lesen bzw. hören.
Wie gesagt, das Album ist ein spezieller Fall. Es wird zwar begleitet von einer massiven Rezeptionssteuerung - an der Rezeption selbst aber kann sich auch beteiligen, wer das Album weder streamt noch physisch besitzt: die entsprechende Webseite bietet Videos zu allen zwölf Songs - kostenlos.
Formal sind es überwiegend Songs (auch in erweiteterter Form), selbst wenn sie keine individuellen Titel tragen, sondern fortlaufend als „Formwelas“ nummeriert sind.
Man kann sie hören & genießen, ohne Aufmerksamkeit für diese Ordnung, ja - siehe oben - auch ohne jede Beachtung der verbalen Spoiler für einen jeden Song, jedes Video.
Dieser Vorspann beginnt jeweils mit einer poetischen Zeile. „Formwela 1“ verspricht demnach eine „Atmosphäre tempelartiger Ruhe, die die Zentrifuge des Selbst durchflutet und sättigt“.
Es folgt jeweils eine ausführlichere Zweckbestimmung des jeweiligen Stückes; das mögen Unkundige für sachlich oder gar wissenschaftlich halten, Musiktherapeuten werden die Augen verdrehen:
„Zum Einprägen und anschließenden inneren Einstimmen (über Hören) in akuten Stressmomenten in der Familie, bei Mitbewohnern, Freunden, Liebhabern, Kollegen, Erinnerungen, Selbstgesprächen, Geistern, Haustieren oder anderen Beziehungsdynamiken, die eine aufflammende Spannung erzeugen“.
cover esperanza apothecaryAlle Girlanden beiseite, was hören wir in „Formwela 1“?

Wir hören eine, dann zwei, dann mehrere Frauenstimmen, die sich auf ein hohes „h“ einpegeln. Ein Fender Rhodes Electric Piano tritt hinzu mit einem Sekundintervall, dann Frau Spalding selbst mit einem Baß-Groove, einem akustischen Piano - und schon sind wir in einem anmutigen, luftigen Song.
Die Melodie, die sie als „Ohrwurm“ bezeichnet, ist in der Tat einfach (und vermutlich meint sie diese Qualität mit diesem Begriff zu fassen). Die Ohwurm-Forschung aber versteht etwas anderes darunter, nämlich „unwanted sound“: einen Klang, eine Melodie, die ungerufen kommen, an die man sich nicht bewußt erinnert.
Ob „Formwela 1“ dazugehört, hängt nicht von den Intentionen der Komponistin ab.
Wohl aber kann der Musikkritiker sagen, dass es sich um einen zauberhaften Einstieg handelt.
„Formwela 2“ greift diese Stimmung auf, ein Piano-ostinato bleibt, der Klangraum wird deutlich erweitert, vokal tritt indisches Flair hinzu (Ganavya Doraiswamy), legt sich über die Songmelodik von Esperanza Spalding.
„Formwela 3“ zeigt erstmal eine Ensemble-Besetzung, vulgo: mit Rhythmusgruppe. Das Stück dreht mächtig auf, auf dem Gipfel drängt sich das Sopran-Saxophon von Wayne Shorter dazwischen (Spalding hat ihm jüngst bei dessen Oper „Iphigenia“ geholfen).
Shorter ist inzwischen 88, er sitzt im Rollstuhl; man meint förmlich den Schmerz um die korrekte Intonation mitzufühlen. Shorter nimmt quasi Anlauf, er spielt nur wenige Phrasen - es werden Signaturen eines Einzigartigen (wie weiland Miles Davis)!
Nach diesem Einsatz kann „Formewela 3“ gar nicht anders, als in einer langen Blende auszuklingen.
Laut Webseite sind die ersten drei Stücke in Wasco County/Oregon entstanden. Sie bilden stilistisch eine Einheit gegenüber den nächsten drei (entstanden in Portland/Oregon), gleichwohl fällt schwer, sie auf den Begriff zu bringen.
Obwohl von einer Afro-Amerikanerin konzipiert, sind es keine Soul-Balladen (von Funk ganz zu schweigen), sie sind einfach & klug, sie haben etwas Folkhaftiges, ohne Folk zu sein. Insbesondere „Formwela 3“ legt - auch wegen Wayne Shorter - eine Assoziation zu den Song-Kunstwerken von Joni Mitchell nahe.
Die Nummern 4-6 basieren hauptsächlich auf Duos mit dem Sänger/Gitarristen Corey D. King. Sie sind von einfacherem Zuschnitt, wiederum folkartig (Nummer 5 mit minimal-artigen patterns in Spaldings rechter Klavierspielhand).
Die drei bilden eine Art Mittelachse, einen deutlichen Kontrast zu den erweiterten, teilweise gar avantgardistischen Stücken der letzten Abteilung mit dem Ursprungsort „Lower Manhattan, NYC“.
Höranleitung und Hör-Realität gehen hier auseinander wie eine Schere.
Nehmen wir beispielsweise „Formwela 9“: wie so viele Stücke trägt auch hier ein Piano/Bass-ostinato die Architektur, zunächst ein Song über einem langsamen Schreit-Tanz.
Plötzlich ergeben sich Interventionen, ja geradezu Injektionen von Gitarre, Saxophon, Schlagzeug, die den Bau aus seiner Verankerung reißen, man fühlt sich an die schrägen Interventionen der Mothers Of Invention erinnert.
Die „musik-therapeutische“ Empfehlung dazu klingt wie aus einer Klinik:
„Benutze es als Schutzamulett, um den Magnetismus und/oder die verführerische Anziehungskraft von jemandem zu unterbrechen, der versucht, high zu werden, indem er deine Aufmerksamkeit und/oder Anziehungskraft anlockt“.
Ja, bittschön´, was soll denn des?
Die Formwelas 7-13 sind reine Kunstmusik, im letzten weicht der Beat einem nervösen Puls (fast wie im FreeJazz, Esperanza Spalding sitzt selbst am zweiten drumset), Formwela 11 ist ein einziges lang gezogenes ritardando, Formwela 10 eine Jazzballade.
Einzig Formwela 8 läuft in seiner Kunstlosigkeit aus dem Ruder, einem nicht enden wollenden semi-afrikanischen „la, la, la“. Ja, der Rhythmus ist nicht gar so einfach, ein anderer Kritiker fühlt sich hier an die Meditationspraktiken von Don Cherry erinnert.
Das mag gerechtfertigt sein. Umgekehrt müssen ja auch unsere Joni Mitchell-Assoziationen nicht von allen geteilt werden.
Es sind Hilfsbemühungen, über eine Musik zu sprechen bzw zu schreiben, die - eben weil sie so wenig mit vertrauten Konzepten kongruent ist - einen eigenen Platz einnimmt.
Bloß, welcher das ist, das ist schwer zu beschreiben und am Ende eine Kollektivleistung des Beschreibens und Findens. Es sind Bemühungen um eine Produkt, das quer steht zu bisherigen Erwartungen und auch Erfahrungen mit dieser Künstlerin, Esperanza Spalding.

erstellt: 27.11.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten