TERRI LYNE CARRINGTON + SOCIAL SCIENCE Waiting Game
CD 1 *********
01. Trapped In The American Dream (Parks, Overall), 02. Bells (Ring Loudly) (Parks, Carrington, Warner), 03. Pray The Gay Away (Carrington, Ellis, Overall), 04. Purple Mountains (Matthew Stevens, Carl Walker), 05. Waiting Game (acapella) (Carrington, Grimalt), 06. Anthem (Parks, Marianna Evans), 07. Love (Joni Mitchell), 08. No Justice (for Political Prisoners) (Carrington, Ndegeocello), 09. Over And Sons (Stevens), 10. If Not Now (Carrington, Stevens, Youssef), 11. Waiting Game (Carrington, Grimalt)
CD 2 ***
01. Dreams And Desperate Measures (part 1) (Carrington, Parks, Stevens, Spalding), 02. Dreams And Desperate Measures (part 2), 03. Dreams And Desperate Measures (part 3), 04. Dreams And Desperate Measures (part 4)
Terri Lyne Carrington - dr, voc, Matthew Stevens - g, Aaron Parks - keyb, Esperanza Spalding - b (1/07, 2/01-04), Morgan Guerin - ts, EWI, b, Derrick Hodge - bg (1/02, 1/10), Debo Ray - voc (1/2,7,11), Kassa Overall - rap voc (1/01), DJ (1/01, 02, 04, 06, 07, 09, 10, Malcolm-Jamal Warner - voc (1/02), Raydar Ellis - rap voc (1/03), Kokayi - rap voc (1/04), Mark Kibble - voc (1/05), Rhapsody - rap voc (1/06), Meshell Ndegocello - (1/8), Maimona Youssef - voc rap (1/10), Nicholas Payton - tp (1/03), Edmar Colon - orchestration (2)
rec. 09.-11.02.2017
Motema MTM0345
Es gibt Bezüge zu Robert Glasper.
„Bells (Ring Loudly)“ ist durchzogen davon: Aaron Parks lässt Soul-Akkorde auf dem E-Piano pendeln wie er, Vokalfetzen schwirren einher, ein Sprecher ist da und eine memorable Melodie, vor allem der Groove, ein schleppender, langsamer Shuffle, glaspert eindrucksvoll.
Mit das beste Stück in dieser an guten Momenten nicht armen Produktion; wir kommen darauf zurück.
Vor allem der Projekttitel scheint glasperisch zu sein: hieß es bei jenem neulich noch „ArtScience“
, klettert Terri Lyne Carrington in den Humanwissenschaften noch eine Stufe höher und nennt ihre Band „Social Science“ - Sozialwissenschaft.
In den Soziologie-Instituten aber müssen sich keine Köpfe recken, Frau Carrington legt ihr Verständnis von Sozialwissenschaft lediglich jazzlike aus:
„Music transcends, breaks barriers, strengthens us, and heals our wounds. Music is Social Science.“
Entwarnung also.
Denn Frau Carrington bleibt bei ihrem Leisten: Musik. Und zumindest auf CD1 heißt das: größtenteils sehr gute Musik.
Dass sie verbal so weit ausgreift, ist verständlich und auch akzeptabel im Rahmen ihrer Intentionen für dieses Projekt; es sind die politische Intentionen, mit Stichworten wie Rassismus, Klassen-Justiz, Black Lives Matter.
Aus einer afro-amerikanischen Perspektive.
Dabei geht sie sehr weit ins Detail: in dem zentralen „politischen“ Stück „No Justice for political Prisoners“ erklingen z.B. die Originalstimmen von Assata Shakur sowie Mumia Abu-Jamal und etlichen anderen (z.B. Angela Davis)
Europäern sagen die Namen wenig. Sie müssen sie in Wikipedia nachschlagen (die links beziehen sich darauf) - und kehren dann eher verwirrt als aufgeklärt oder gar aufgewiegelt zum genußvollen Rezipieren der jeweiligen Stücke zurück.
Noch größer ist der Spagat zwischen politischer Intention und ästhetischer Form im schon erwähnten „Bells (Ring Loudly)“ mit seinen nicht nur musikalisch, sondern auch lyrisch hoch-künstlerischen Verfeinerungen, (z.B. „Bells, siren swell morphing into church bells, Signaling another unjustifiable death“) oder im Titelstück „Waiting Game“ mit dem wohl originellsten Arrangement der gesamten Produktion.
Den Text, teilt Carrington mit, habe sie kurz nach der Wahl von Donald Trump geschrieben. Das „Warten“ bezieht sich darauf, dass dieser Spuk vorüber gehen möge wie auch viele andere Dinge, „auf die wir warten“.
Das Stück - in seiner a capella-Version, track 3 - enthält die wohl beeindruckendste (von etlichen beeindruckenden) Vokal-Performances dieses Albums durch Mark Kibble (von Take 6). Er stützt sich dabei auf nichts anderes als ein tickendes Metronom, mit Hilfe kurzer Echos streckenweise in einen ternären Groove gebracht von Kassa Overall.
Ein Metronom, das groovt - das hatten wir noch nicht!
Das grundlegende Problem, das sich hier auftut, der Konflikt zwischen politischer Absicht (mit der entsprechenden Hoffnung auf Wirkung) und ihrer Artikulation in einem ästhetischen Kontext, Daniel Martin Feige hat es so beschrieben:
"Selbst noch gesprochene Worte sind im Rahmen eines musikalischen Werks Ausdruck einer klingenden und erklingenden Sprache, so dass anders als im alltäglichen Sprechen die klangliche Seite der Worte hier im Regelfall ein wesentlicher Aspekt der Sprache wird; sie werden selbst Teil des musikalischen Materials" (in „Musik und Narration“, Bielefeld, 2015).
Während „Waiting Game“ auf CD1 als jazz-naher, sehr offener moderner Rhythm & Blues brilliert (inklusive eines „Gegenteils“, nämlich der beachtlichen Interpretation von Joni Mitchell´s „Love“ durch Debo Ray), fällt CD2 dramatisch ab.
Ja, die große instrumentale Meisterschaft scheint verflogen in einer langweiligen Improvisation, die sich in vier Teilen über 40 Minuten schleppt und keinen zündenden Funken erkennen lässt. Ganz zu schweigen davon, dass sie zwar personell, aber inhaltlich in keiner Relation zur ersten Hälfte dieses Doppelalbums steht.
erstellt: 05.12.19
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