THOMAS STRØNEN Time is a blind Guide *******
01. The Stone Carriers (Strønen), 02. Tide, 03. Everything disappears I (Strønen, Downes), 04. Pipa (Strønen), 05. I don´t wait for anyone, 06. The drowned City, 07. Lost Souls, 08. Everything disappears II Ode to JT, 09. Time is a blind Guide, 10. As we wait for Time, 12. Simples
Thomas Strønen - dr, perc, Kit Downes - p, Håkon Aase - v, Lucy Railton - vc, Ole Morten Vågan - b, Siv Øyunn Kjenstad - perc (1,7,9,10), Steinar Mossige - perc, (1,2,7,9,10)
rec. 06/2015
ECM 2467 475 4115
FOOD This is not a Miracle ****
01. First Sorrow (Thomas Strønen), 02. Where dry Desert ends, 03. This is not a Miracle, 04. The Concept of Density, 05. Sinking Gardens of Babylon, 06. Death of Niger, 07. Exposed to Frost, 08. Earthly Carriage, 09. Age of Innocence, 10. The Grain Mill, 11. Without the Laws
Thomas Strønen - dr, electronics, perc, synth, ep, Iain Ballamy - ss, as, ts, electronics, Christian Fennesz - g, electronics
rec. 06/2013
ECM 2417 473 9039
Fiona Talkington, Moderatorin bei BBC Radio Three, wo sie die eklektizistische Reihe „Late Junction“ betreut, tritt gern auch als Kuratorin hervor.
In dieser Rolle liegt ihr insbesondere der Austausch zwischen Norwegen und UK am Ohr; sie hat entsprechend für das London Jazzfestival programmiert, aus ihrer Reihe „Connexions“ in Oslo ist dieses Projekt hervorgegangen.
Ihr Auftrag an Thomas Strønen, Musik für eine gemischtes Ensemble aus norwegischen und englischen Musikern zu komponieren, war u.a. verbunden mit dem Vorschlag „Kit Downes“.
„Eine sehr gute Empfehlung“, muss man Strønen uneingeschränkt beipflichten, denn unter allen britischen Jazzpianisten, unterhalb des Ganz Großen Stars Gwilym Simcock, steht der 29jährige aus Norwich seit Jahren konstant für beeindruckende Projekte.
Nur konsequent, dass sich auch diesmal Lucy Railton an seiner Seite befindet, seine Cello-Partnerin aus dem aparten „Tricko“-Album.
Wie gesagt, die Musik stammt hauptsächlich von Thomas Strønen, der sich ganz nebenbei hier auch jazzmässig als Schlagzeuger empfiehlt, in nicht allzu großer Ferne zu Norwegens Altmeister Jon Christensen; überwiegend erlebt man ihn ja - siehe unten - an diesem Instrument in ganz anderen Rollen.
Das von Talkington projektierte Konzert in Oslo lief gut, so gut, dass Strønen während zwei Jahren andere Projekte zugunsten dieses Septetts zurückstellte und dann damit im Juni 2015 ins berühmte Rainbow Studio in Oslo ging.
Die beiden Streicher (Håkon Aase und Lucy Railton), zu denen sich auch der gelegentliche arco bass von Ole Morten Vågan gesellt, rücken das Ensemble in Richtung „Klassik“. Aber, es ist eine Art imaginärer Klassik (und ebenso imaginärer Folk), wie wir sie auch von Christian Wallumrød kennen - freilich unterlegt von einer weitaus größeren Portion Jazz.
Was Wallumrød und Strønen teilen, lautet in den Worten des letzteren:
„I mag Melodien, die so zugänglich sind, dass man sie singen kann. Gleichwohl ist es nicht ganz ohne, dazu zu klatschen oder zu stampfen. Es handelt sich um melodische Musik mit einem gewissen Dreh.“
Das stimmt. Neben Strønen sind hier allein zwei Perkussionisten beschäftigt - gleichwohl geht jede Assoziation ins Lateinamerikanische oder sonstwie Ethnische in die Leere (bestenfalls indisch-beeinflusste Skalen tauchen auf: in dem Trauermarsch „Pipa“ oder in der rubato Ballade „The Drowned City“).
Thomas Strønen hat nämlich neben den oft kantilenen-artigen Themen noch einen anderen „Dreh“ realisiert, und das sind „unorthodox time signatures“.
Das wunderbare „The Stone Carriers“, das das Album eröffnet und erst nach zweieinhalb Minuten das Thema exponiert, steht von da ab in 5/4, „Lost Souls“ wandelt in 10/4 - und hat obenauf eine Melodie, die man mit Julia Hülsmann als Verwandte des altdeutschen Schlagers „Kauf dir einen bunten Luftballon“ hören kann, bevor Lucy Railton eine indische Färbung einbringt. Die Percussion kommt beinahe schläfrig daher (ohne wirklich in diesen Modus zu verfallen) und das Downes´sche Piano gibt dem Ganzen noch einen anderen Dreh.
Ja, dieses Ensemble entwickelt wirklich eine ganz eigene Poetik, und selbst wenn es in „As we wait for Time“ auf eine Art Afro Groove einschwenkt, geschieht dies eher aus dem Geiste europäischer Kammermusik als im Hinblick auf dance floor.
Das alles erstrahlt geradezu in einer fröhlichen Melancholie, wie sie - wenn denn das belegt werden müsste - offenkundig auch Nicht-Norweger zu äußern in der Lage sind.
Wer gerne mit Albumtiteln sprach-spielt, der kommt beim Vergleich dieser beiden neuen Strønen-Produktionen voll auf seine Kosten. Und kann „This is not a Miracle“ von Food auch gut & gerne gegen den Inhalt anwenden.
Der Titel trifft brutalstmöglich (Roland Koch) zu: dieses jüngste Album des seit 1998 bestehenden Ensembles enthüllt nun wirklich kein Geheimnis - im Gegensatz zu „Time is a blind Guide“, das auch nach mehrmaligem Hören immer noch Fragen offen lässt: wie haben die das gemacht?
Wer hingegen halbwegs mit der Ästhetik des elektro-akustischen Jazz vertraut ist, der kann jeden Rhythmus, jede Figur von Food sogleich nachvollziehen, nicht mal das Klangarsenal - obgleich Christian Fennesz mitwirkt - birgt Überraschungen (vom opening des tracks 7 „Exposed to Frost“ einmal abgesehen).
Für „This is not a Miracle“ tauscht Thomas Strønen nicht nur den größen Teil seines sets aus, er tritt auch in eine ganz andere Rolle, nämlich in die des Nachbearbeiters. Strønen, Iain Ballamy und Fennesz, die hier nicht erstmalig zusammentreffen, hatten diesmal im Studio zunächst „Strukturelle Ideen“ Strønens umgesetzt, kein Er-Improvisieren von Material, sondern Realisierung von „some sketches I´d written down“.
Der Drummer nahm alle soundfiles an sich, filetierte fünf Monate in seinem Studio „die Musik bis auf die Knochen“ und ließ nur die Grooves stehen.
Und genau darin liegt wahrscheinlich das Problem dieser Produktion. Die Grooves sind, allem offbeat-Geklingel zum Trotz, banal, die Synthie-Sounds altbekannt und teilweise dick aufgetragen (vor allem im Titelstück).
Vor allem aber leidet die Produktion an einem Standard-Problem des elektro-akustischen Jazz, an dem Blasinstrumente beteiligt sind: sie sind technisch & strukturell nicht in der Lage, Klänge lang auszuhalten, sie verfliegen sogleich. Bebop-lines zu spielen, verbietet sich, weil dafür kein Kontext bereitsteht, niemand, der solchen Linien zu folgen vermag.
Saxophonisten, auch die besten, behelfen sich in solchen Fällen, Töne lang auszuhalten - das beraubt sie mancher Eigenheiten, die gerade in ihrer Phrasierung zum Ausdruck kommen.
Iain Ballamy, ausgerechnet Ballamy, liefert hier ein klassisches Beispiel der Misere, meist spielt er lang-gezogene, spannungsarme Tenorlinien, manchmal in loops gedehnt, in „Age of Innocence“ - nomen est omen - auch Sopran, am Öffnungstrack ist er gar nicht beteiligt!
Auf gut Deutsch, der Mann steht in den Kulissen eines Projektes herum, das zu Anfang, 1998, seinen Namen trug und ihn akustisch mehr und mehr aus dem Bild drängt.
Es bleibt dabei, der Standard auf diesem Sektor ist immer noch der von dem englisch-französischen Ensembles Splice mit zwei Alben gesetzte, 2009 und 2012.
erstellt: 23.12.15
©Michael Rüsenberg, 2015. Alle Rechte vorbehalten