MILES DAVIS Miles Davis at Newport 1955-1975 ********
The Bootleg Series Vol. 4
CD 1
01. Spoken Introductions by Duke Ellington, Gerry Mulligan, 02. Hackensack (Monk), 03. Round Midnight (Monk, Williams, Hanighen), 04. Now´s the Time (Charlie Parker)
Miles Davis - tp, Zoot Zims - ts, Gerry Mulligan - bars, Thelonious Monk - p, Percy Heath - b, Connie Kay - dr
rec. 17.07.1955, Newport/RI
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05. Spoken Introduction by Willis Connover, 06. Ah-Leu-Cha (Parker), 07. Straight, no Chaser (Monk), 08.Fran-Dance (Miles Davis), 09. Two Bass Hit (Lewis, Gillespie), 10. Bye Bye Blackbird (Dixon, Henderson), 11. The Theme (M. Davis)
Miles Davis - tp, Cannonball Adderley - as, John Coltrane - ts, Bill Evans - p, Paul Chambers - b, Jimmy Cobb - dr
rec. 03.07.1958, Newport/RI
CD 2
01. Gingerbread Boy (Jimmy Heath), 02. All Blues (M. Davis), 03. Stella by Starlight (Washington, Young), 04. R.J. (Ron Carter), 05. Seven Steps to Heaven (Feldman, Davis), 06. The Theme (M. Davis)
Miles Davis - tp, Wayne Shorter - ts, Herbie Hancock - p, Ron Carter - b, Tony Williams - dr
rec. 04.07.1966, Newport/RI
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07. Spoken Introduction by Del Shields, 08. Gingerbread Boy (Jimmy Heath), 09. Footprints (Wayne Shorter), 10. Round Midnight (Monk, Williams, Hanighen), 11. So What (M. Davis), 12. The Theme (M. Davis)
Miles Davis - tp, Wayne Shorter - ts, Herbie Hancock - p, Ron Carter - b, Tony Williams - dr
rec. 02.07.1967, Newport/RI
CD 3
01. Miles runs the Voodoo down (M. Davis), 02. Sanctuary (W. Shorter), 03. It´s about that Time/The Theme (M. Davis)
Miles Davis - tp, Chick Corea - ep, Dave Holland - b, Jack DeJohnette - dr
rec. 05.07.1969, Newport/RI
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04. Spoken Introduction by Ronnie Scott, 05. Turnaround Phrase (M. Davis), 06. Tune in 6, 07. Ife, 08. Untitled Original, 09. Tune in 5
Miles Davis - tp, org, Dave Liebman - ss, ts, fl, Pete Cosey - g, perc, Reggie Lucas - g, Michael Henderson - bg, Al Foster - dr, James Mtume Forman - perc
rec. 01.11.1973, Berlin, Philharmonie
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10. Mtume (M. Davis)
Miles Davis - tp, org, Sam Morrison - ts, Pete Cosey - g, perc, Reggie Lucas - g, Michael Henderson - bg, Al Foster - dr, James Mtume Forman - perc
rec. 01.07.1975, New York City, Avery Fisher Hall
CD 4
01. Directions (Zawinul), 02. What I say (M. Davis), 03. Sanctuary (M. Davis ?), 04. It´s about that Time, 05. Bitches Brew, 06. Funky Tonk, 07. Sanctuary (W. Shorter)
Miles Davis - tp, Gary Bartz - ss, as, Keith Jarrett - ep, org, Michael Henderson - bg, Ndugu Leon Chancler - dr, Don Alias - perc, James Mtume Forman - per
rec. 22.10.1971, Dietikon/CH, Neue Stadthalle
Sony/Columbia Legacy 8875081952, LC 00162
Unabhängig davon, ob das Etikett dieses Unternehmens stimmt (ob es sich also wirklich um graue, vielleicht illegale Aufnahmen handelt, vulgo bootlegs), es hat uns musikalisch verwöhnt. Der Wertungsüberhang aus der vorherigen Edition, dem Vol. 3 („Live at Fillmore“), ist enorm - so geht es hier nicht weiter, allenfalls stellenweise.
Newport, eines der ältesten Jazzfestivals der Welt, startete 1954 open air im US-Bundesstaat Rhode Island, wo es auch heute wieder stattfindet, zwischendurch war es in New York beheimatet, es gab sogar Exporte des Festivals nach Europa. Davon, anhand Miles Davis Performances, erzählt diese 4-CD-Box.
Die Premiere fand 1954 ohne Miles statt. Für die Zweitauflage lud er sich bei Veranstalter George Wein quasi selbst ein: „George machst du dieses Jahr wieder ein Festival in Newport? Das kannst du nicht ohne mich machen!“, wie dem booklet zu entnehmen ist.
Da weder Miles noch die anderen Stars zu dem Zeitpunkt eine eigene Band hatten, stellte Wein für das Festival 1955 eine All-Star-Band plus Rhythmusgruppe zusammen.
Die klingt, wie solche Ensembles häufig zu klingen pflegen: wenig inspiriert, sie agiert vorsichtig, niemand mag sich recht exponieren, zudem ist das Klavier verstimmt.
Als Miles drei Jahre später wieder in Newport erscheint, ist die Performance vom ersten Ton an ausgewechselt. Er leitet eine gut eingespielte Combo, sein legendäres Sextett, darin zwei der heissesten Saxophonisten jener Jahre Cannonball Adderley (alt) und John Coltrane (tenor), wobei Cannonball seine Soli durchphrasiert und durch thematische Improvisation auffällt.
Nicht zu vergessen Bill Evans (piano) und der fulminant aufspielenden Jimmy Cobb, der hoch-interaktiv manches vorweg nimmt, was später Tony Williams auf seinem Posten zu klassischen Mustern der Schlagzeug-Geschichte promovieren wird.
Miles ist gut drauf, seine Intonation durchweg besser als im Verein mit Monk & Co. drei Jahre zuvor.
Miles, so beschreibt ihn George Wein, sei in jenen Jahren immer sehr kurzfristig angereist und nach dem Konzert gleich wieder weg. Man ist versucht, dieses Reiseverhalten auch auf die Behandlung der Themen zu beziehen. Das Sextett verwendet wenig Zeit und Akuratesse darauf, das Quintett Mitte der 60er noch weniger - hier treten Leute an, die keine Zeit zu verschenken haben.
Sie rotzen die Themen geradezu herunter (Paradebeispiel „Ginger Bread Boy“, 1967 noch einen Dreh schneller!), um so rasch wie möglich zum Eigentlichen zu kommen: den Soli und der Interaktion drumherum, die diesem Ensemble eine Sonderstellung in der Jazzgeschichte gebracht haben.
CD 2 ist der Gipfel dieser Box, sie verdiente **********, wenn nicht die anderen Mitschnitte demgegenüber so abfielen.
Tausendmal ist beschrieben worden, was die Kommunikation gerade dieser Gruppe so einzigartig macht - und doch kann man sich ein jedes Mal wieder daran berauschen. Dieses Aufeinander-Hören und Aufeinander-Reagieren, beispielsweise der Wechsel ins halbe Tempo, manchmal nur für 8 Takte („Gingerbread Boy“, 1966), selbst eine Ballade wie „Round Midnight“ wird nach einer Schamfrist in einen uptempo swing-Mittelteil genommen.
Das Publikum applaudiert noch, da kommt das nächste Geschoss: „So What“, angefeuert durch das dominierende ride cymbal von Tony Williams. Er ist die treibende Kraft, er reisst alles mit, er spielt - wie Dennis Chambers das später einmal beobachtet haben will -, „als würden die Bullen draußen auf ihn warten.“
Es mag andere Kommunikation in diesem Jazz-Format geben (der immer noch Song-gebundenen Struktur), aber kaum jemals bessere, erregendere.
1969 (CD 3) erscheint Miles lediglich mit einem Quartett und einem völlig anderen Konzept - Jazzrock. Kein Wayne Shorter, der in den Jahren 1966/67 eine überragende Performance liefert, mit dem trockenen, erdigen Ton, den viele an „Plugged Nickel“ (1965) bewundern, und den er hier auch im Hochtempo halten kann.
1969, das booklet spricht zutreffend von „einer Art Probe für den Sturm, der darauf kommen sollte“, gemeint die Produktion von „Bitches Brew“ sechs Wochen später.
Das Repertoire greift vor (Miles runs the Voodoo down“ und „Sanctuary“), aber auch zurück auf Studiodate vom Frühjahr 1969 („In a silent Way“).
Wieder ein hoch-energetischer, hoch-interaktiver Drummer (Jack DeJohnette), der im Dialog mit Miles und vor allem mit Chick Corea glänzt. Seine Patterns, insbesondere in „It´s about that Time“, sind so dicht, dass man fragen muss, ob hier der Ursprung des Free Funk liegt und nicht Jahre später bei Ornette Coleman und Shannon Jackson.
Chronologisch müsste hier das Konzert in Dietikon/Zürich 1971 anschliessen, ein Export unter dem Signum „Newport Jazz Festival in Europe“. Aber da man ihm diskrographisch eine eigene CD einräumt (CD 4) folgt auf den Jazzrock des Quartetts 1969 der Jazzrock der sogenannten „Dark Magus“-Band 1973, wiederum als Newport-Export, diesmal Teil der Berliner Jazztage.
Die gute Dreiviertelstunde in Berlin beginnt mit einem ganz anderen, einfacheren Muster, nämlich dem Al Foster-Cymbal-Beat in 4/4 (das zweimalige „Tune in 5“ lässt keinen 5/4-Takt erkennen). Ein bevorzugtes Mittel jener Jahre war die stop time: das gesamte Ensemble pausiert kurzfristig und lässt nur einen Solisten durch, außerdem bedient Miles gelegentlich einen Orgel.
Hier greift die CD-Box nicht auf Aufnahmen des Sender Freies Berlin zurück, sondern auf den privaten Mitschnitt des Produzenten.
Das rächt sich. Das Durcheinander bei den Themen, bei den unentschlossenen Soli wird durch mulmigen Sound verstärkt, die Wahl zweier Gitarristen erscheint keinen Moment einleuchtend, und selbst ein Dave Liebman erringt keinerlei Momente, die auch nur annähernd denen von Wayne Shorter gleichzustellen wären.
CD 4, Dietikon/Zürich, eine Aufnahme des Schweizer Radios, erklingt demgegnüber transparent, aber musikalisch-strukturell erheblich unterbelichtet. Man wird lange nach eine Miles Davis-Band suchen müssen, die so wenig groovt wie diese hier am 22. Oktober 1971 in der Stadthalle von Dietikon.
Gary Bartz, gemessen wiederum an einem Wayne Shorter, entpuppt sich als reiner Pattern-Spieler, also als einer, der in langen Ketten wenig variiert und immer wieder dieselben Motive kreisen lässt.
Die Rhythmusgruppe kann mit Keith Jarrett wenig anfangen, als der in „Funky Tonk“ endlich in die Gänge kommt und tendenziell ein Feld betritt, auf dem er sich auch heute noch, am Flügel, bewegt.
Die mangelnde Interaktion ist hier quasi „mit Händen zu greifen“.
Man meint geradezu Jarrett´s viel-geäußerte Abscheu gegenüber elektro-akustischen Klangerzeugern zu hören, zu deren Einsatz Miles ihn gedrängt hatte. Mit Chick Corea bildete er ein tolles Team, aber allein am E-Piano ist der spätere große Pianist nicht zu erkennen.
Laut Jarrett-Biograph Wolfgang Sander hält Jarrett selbst diese für „die stärkste Band von Miles“ - eine bizarre Wertung im Hinblick auf das klingende Resultat dieser und zahlloser anderer Besetzungen von Miles Davis.
erstellt: 03.08.15
©Michael Rüsenberg, 2015. Alle Rechte vorbehalten