KEITH JARRETT Sleeper. Tokyo. April 16, 1979 **********

CD 1
01. Personal Mountains (Jarrett), 02. Innocence, 03. So tender
CD 2
01. Oasis, 02. Chant of the Soil, 03. Prism, 04. New Dance

Keith Jarrett - p, perc, Jan Garbarek - ss, ts, fl, perc, Palle Danielsson - b, Jon Christensen - dr, perc

rec. 16.04.1979
ECM 2290/91 3705570, LC 02516


Nach 3 Minuten und 41 Sekunden ruft Keith Jarrett zum ersten Mal. Es ist eine Äußerung der Lust und des Gelingens. Nicht wenige, die seinerzeit die Chance hatten, dieses europäische Quartett von Jarrett live zu erleben, beispielsweise in der Messe Düsseldorf, werden sich von dieser Bekundung anstecken lassen. Vermutlich sind sie aber auch schon zuvor in den Sog dieser Unternehmung geraten.
Denn die Musiker fackeln nicht lange, sie starten mit einem energetischen, binären Groove im Jarrett-typischen semi-Gospel-Modus.
Die bekannte Verteilung zwischen linker und rechter Spielhand, die Unterbrechungen, die Wiederholungen in Jarrett´s Pianospiel, sie sind auch den Nachgeborenen vertraut. Sie klingen hier vielleicht dynamischer, ungestümer.
Am meisten werden die jüngeren sich aber über Jan Garbarek wundern. Da ist nichts, aber auch gar nichts von dem pastoralen, mitunter manierierten Ton der letzten zwei Dekaden. Der Ansatz ist völlig anders, insbesondere auf dem Sopran, er drängt und singt, als sei hier ein Bruder von Michael Brecker am Werk. Was Wunder, beziehen doch beide sich auf „Vater“ John Coltrane.
Ohne diese Rhythmusgruppe wären Drive und Vergnügen geringer, Palle Danielsson hält den tänzelnden Charme des Groove durch im Duo der beiden, Jon Christensen trommelt dagegen an. Kurze Wiederholung des Themas durch die beiden Melodiker, um 14:50 nimmt Jarrett das Tempo raus und reduziert auf die Hälfte. Der Groove wechselt in einen 6/4-Takt, der „norwegische“ Garbarek, mit seinem tendenziell elegischen Ton schält sich deutlicher heraus.
Wenn denn diese Aufnahme einen „Zeitstempel“ tragen sollte, dann hier in Ton, Artikulation, Phrasierung von Jan Garbarek - so würde er, so würde heute kein Saxophonist mehr spielen. Achtung, damit ist lediglich eine Differenz beschrieben und kein Qualitätsverlust.
cover-jarret-sleeperGarbarek hat später, in den liner notes zu seinen „Selected Recordings“ darauf verwiesen, dass er hier die Musik eines anderen, damals Avancierteren gespielt - und wieviel er davon/dabei gelernt habe.
Drei Alben hat dieses Quartett während seiner fünf Jahre veröffentlicht, ein viertes, „Personal Mountains“, kam erst 10 Jahre später, 1989, auf den Markt, „Sleeper“ ist im Abstand von 33 Jahren das fünfte.
„Der Einfluss dieses Quartetts steht in umgekehrtem Verhältnis zu seiner kurzen Lebensspanne“, schreibt der verstorbene Trompeter und Jarrett-Biograf Ian Carr. „Musiker aller Instrumentengattungen sind beeinflusst und inspiriert von Jarrett´s Werk generell, aber von diesem Quartett im besonderen. Das Europäische Quartett wurde auf dem Höhepunkt seiner Kreativität aufgelöst.“ ECM weist zurecht darauf hin, dass „Sleeper“ diese Aussage belegt.
„Personal Mountains“ geht nahtlos über in die „pastorale“ Ballade „Innocence“, die eine Reihe schöner Duos enthält, u.a. ein leicht barockes von Jarrett mit Danielsson. Jarrett führt mit einem Piano-Intro in „So Tender“, dem gewissermaßen jazzigsten Stück des ganzen Abends - was sich Jahre später auch dadurch bestätigt, dass das Stück vom „Standards“-Trio aufgegriffen wird; mit seiner 32-Takte-Form ohnehin dem Rahmen eines Standards nahe. Jarrett perlt, wie er das auch heute tut, und man darf sich an der wundervollen Begleitung einer Rhythmusgruppe ergötzen, die heute so gut wie nicht mehr zu erleben ist.
„Oasis“ löst die Frage, warum bis auf Danielsson alle auch als Perkussionisten gelistet sind. Das Stück beginnt mit einer langen pseudo-afrikanischen Passage, in der die Flöte (vermutlich Hirtenflöte) von Garbarek durch einen zunehmend sich verdichtenden Groove getragen wird. Jarrett setzt erst nach gut 7 Minuten am Piano ein. Garbarek wechselt zum Sopran - ein schönes Beispiel dessen, was man heute auch als „Imaginäre Folklore“ bezeichnen mag, wobei die afrikanischen Bezüge sich zunehmend verflüchtigen. Es geht in einen tonalen Free Jazz, der von Jarrett mehrfach mit Rufen des Entzückens quittiert wird.
„Chant of the Soil“, Gesang der Erde - kann sich bei einem solchen Titel etwas anders bewegen als ein schleppender Gospel-Groove? Hier erklingt die „schwärzeste“ Viertelstunde, die unter Beteiligung norwegischer Jazzmusiker je produziert worden ist.
Es folgen: die Ballade „Prism“, die auch das „Standards“-Trio aufgegriffen hat, sowie der leichte Calypso-vamp „New Dance“, der wenige Wochen später im Village Vanguard gleichfalls aufgenommen wurde und Eingang fand in das letzte Album dieses Quartetts zu „Lebenszeiten“, „Nude Ants“.
PS: Wenn man vom Rathaus kommt, dann ist man schlauer. Leider können wir diese Musik nicht mehr mit den „Ohren von 1979“ hören. Wir wissen, was danach gekommen ist. Aber dass eine Musik, deren Bestandteile samt und sonders bekannt sind, so zu begeistern mag, das kann nur daran liegen, dass sie zentrale & ewige Jazzwerte einlöst, die nicht an Stile oder Epochen gebunden sind:
Passion, Interaktion, Spielwitz, Fantasie und Geistesgegenwart.
Es dürfte wenig Alben des Jahrgangs 2012 geben, die da mithalten können.
PPS: Gemessen an der sophistication des Inhaltes ist der Titel dieses Unternehmens von frappierender Einfalt. Es mag sein, dass die Alltagssprache von den Dingen, die in Archiven aufbewahrt werden, nicht anders reden kann, als dass sie „ruhen“. Aber schon ein Anruf beim ZDF-Terrorexperten Elmar Thevessen hätte genügt um zu erfahren, dass der Begriff „Schläfer“ heute für einen potenziell höchst bedrohlichen Zeitgenossen reserviert ist.

erstellt: 02.08.12
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