STEMESEDER LILLINGER UMBRa *******

01 Cycle I (Stemeseder, Lillinger), 02. Cycle II, 03. Cycle III, 04. Cycle IV, 05. Cycle V, 06. Cycle VI, 07. Cycle VII, 08. Cycle VIII, 09. Cycle IX, 10. Cycle X

Elias Stemeseder - synth, electronics, lautenwerk, una corda, Christian Lillinger - dr, sampler, synth, Peter Evans - piccolo-tp (6,7,9), Russell Hall - b (3,10), DoYeon Kim - gayageum (1,2,3,5,8,), Brandon Seabrock - banjo, g (2,5,6,7)


rec. 28.09.+ 29.09.2022

Intakt CD 405/2023

Das Vorgängeralbum aus dem Febraur 2021 heisst „Penumbra“.
Für dieses neue hat man die Vorsilbe weggelassen.
Und schon lässt sich der Gedanke nicht abweisen, bei nochmaliger Silbenabscheidung ergäbe sich der Schlußtitel einer Trilogie, nämlich „bra“ (ob man damit heute den scharf gestellten Sexismus-Radar der Szene unterfliegen kann?).
Wir jedenfalls würden uns - unter welchem Titel auch immer - einen Fortgang wünschen, denn dieses Album übertrifft seinen Vorgänger deutlich. Und - wer weiß? - vielleicht würde das Endstück der Kette ja den noch verbleibenden headroom ausfüllen (?)
Gegenüber dem Vorgänger haben Stemeseder & Lillinger nicht nur qualitativ, sondern auch personell aufgestockt. Und zwar mit New Yorker Personal.
Die tracks sind an zwei Septembertagen 2022 aufgenommen im Figure8 Studio in New York City. Gemischt ebendort an einem Novembertag 2022 sowie an einem Märztag 2023 in Winterthur.
Die Musik ist nicht mehr Techno, allenfalls noch technoid, aber größtenteils von den Strukturen der Improvisierten Musik geprägt.
Vor allem - und das hebt sie ab von der früheren Produktion - verliert sie sich nicht mehr in Kleinzelligkeit.
Sie atmet, sie lässt Raum, sie ist - um das widersinnige Wort zu beanspruchen - sie ist „transparent“.
cover Stemeseder Lilliner UmbraEin sehr gutes Beispiel ist der Einstieg mit DoYeon Kim, „Cycle 1“.
Sie bedient die koreanische Wölbbrettzither Gayageum, ein Instrument mit 12 Saiten, klanglich verwandt der japanischen Koto. Das Instrument hat eine Tonalität, die sich leicht Blues-haft deuten lässt.
Die sehr trockenen off-pitch-Phrasen der Gayageum in diesem Stück sind eingebettet in einen diesmal sehr sparsamen Umgang mit Elektronik. Es gibt keinen „Beat“, der Rhythmus ist rubato-freimetrisch.
„UMBRa“ hat hier seine Höhepunkte; insbesondere in „Cycle VIII“: um die Gayageum herum schaukeln keyboard-ostinati wie glitzernde Meereswellen. Poseidon schickt von tief unten irreguläre Bass-Synthi-Linien.
Beeindruckend auch der Einsatz eines realen Bassisten (Russel Hall) in „Cycle III“, dem ersten track mit deutlicher Schlagzeug-Spur.
Die Gayageum fehlt hier, ihre melodisch-akkordische Arbeit scheint in ein höheres Register delegiert, an die Una Corda, ein Piano-verwandtes Instrument, das im Gegensatz zu jenem pro Ton nur eine Saite hat.
Zum Schluß von Cycle III“ provozieren Stemeseder & Lillinger alle, die die Produktion (noch) per CD hören, zu einem Blick auf das Laufwerk. Bei 2:53 haben sie einen glitch eingebaut, einen Digitalfehler. 10 Sekunden lang wiederholt sich eine vier-tönige Phrase - als ob der CD-Player einen Abstastfehler beginge.
Aber nein, so ist es geplant. Das Stück endet abrupt (wie die meisten), und „Cycle IV“, schließt nahtlos an mit technoid transformierten drum-sounds (in diesem Falle mit leicht absaufenden Tonhöhen). Es ist (mutmaßlich, genau kann man das nicht sagen) ein Solo-track von Christian Lillinger ohne die üblichen Lillingerismen.
Der Wiedereintritt von Brandon Seabrock (jetzt am Banjo) in „Cycle V“, zusammen mit Kims Gayageum ist wie ein Stück elektro-akustischer Musik inszeniert.
Der Ersteintritt von Peter Evans, piccolo-tp, mit „Cycle VI“, lässt sich strukturell durchaus noch als „FreeJazz“ erfassen, klanglich wiederum mit allerlei elekro-akustische Raffinessen. Stilistisch Verwandtes ereignet sich in „Cycle IX“, nur spannender, dichter.
In „Cycle VII“ sitzen tp-multiphonics auf keyboard-drones.
Die liner notes bleiben auch hier leider hinter dem zurück, was man über diese Produktion in Erfahrung bringen möchte. Damit ist nicht gemeint, dass die New Yorker Autorin Vanessa Argue von „stillen Punkten“ spricht, die sich zu „einem Geflecht stacheliger Strukturen verzweig(en)“.
Sie unterliegt hier dem gleichen Problem der Versprachlichung (spannender) abstrakter Strukturen wie der Rezensent. Aber es wäre schon aufschlußreich zu erfahren, was denn im Nachgang zur Aufnahme im Studio, wo ja gerne ein „Höchstmaß an Spontaneität“ geherrscht haben mag, damit geschehen ist.
Denn diese Produktion klingt nicht so, wie sie von den Mikrofonen eingefangen wrude. Diese Produktion ist auch ein Fest der Post-Production.
erstellt: 24.05.23
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