STEMESEDER - LILLINGER Penumbra ****
01 sulfur rekurs (Stemeseder, Lillinger), 02. Plantinumy, 03. tpoxoi, 04. Utaa!, 05. Penumbra, 06. Tek, 07. ictus, 08. Pfox, 09. BERNHARD, 10. antumbra, 11. Plantinum
Elias Stemeseder - cembalo, synth, electronics, Christian Lillinger - dr, sampler, synth
rec. 17.-19.02.2021
Edel/Plaist 013
Niemand, der dieses Album zur Hand nimmt oder herunterlädt, tut dies in der Erwartung einer „klassischen“ Piano-Drums-Besetzung - was man Elias Stemeseder und Christian Lillinger zu jeder Tages- oder Nachzeit zutrauen möchte.
Beide agieren an den Schnittstellen der europäischen Jazz-Avantgarde zu anderen Avantgardismen.
Wer den Waschzettel zum Album studiert, wird mit „Files under: electronic, experimental, urban, avantgarde“ schon auf einen anderen Pfad vorbereitet. Dass sie sich desweiteren nicht als Jazzmusiker (wie bekannt), sondern als „Produzentenduo“ bezeichnen, tut ein Übriges.
Und doch vermeiden sie den Begriff, der einem sogleich auf der Zunge liegen will und nach den ersten „Takten“ vom Stilempfinden dringend nahegelegt wird: Techno.
Dabei schlagen die verrätselten Rhythmusspuren des ersten, vor allem aber des dritten tracks einen Assoziationspfad zu einem anderen Produzentenduo, nämlich Rob Brown und Sean Booth, aka Autechre.
Viel weniger aber will zu diesem scharf-kantigen Gewusel der Begleittext passen, der mit modernistischem Vokabular einen Bedeutungsraum so voll möbliert, dass Gedankenpäckchen ungeordnet übereinander liegen.
Eines enthält die Botschaft, hier werde „die musikalische Utopie des Produzentenduos STEMESEDER-LILLINGER“ aufgezeigt (und man fragt sich, in welch anderer Gestalt als in den hier erklingenden Tönen diese denn erscheinen möge).
Ein anderes verspricht, um Jahrhunderte rückgewandt, von der „Wiederaneignung eines barocken Klangkörpers: das Basso Continuo“, selbstverständlich „rekontextualisiert“ im „Dienst zeitgenössischer Musizierhaltungen“ (und man fragt sich, warum das heutige Vokabular von vamp, riff, loop dafür verschmät wird).
Andere Päckchen tragen bildungsfromme Aufschriften wie „Nachhaltigkeit“, „komplexe Kompositionsschemata“ und, immer gerne, „forschende Arbeit“.
Letzteres wollen wir gerne glauben, wenn damit ein Ansatz gemeint ist, der beim ersten Ton noch nicht den Parcours zum letzten kennt.
Forschen heißt aber auch Verwerfen, das aussortieren, was nicht anschlußfähig ist, was nicht passt.
Und, in letzter Konsequenz, dem Zuhörer nicht alles zuzumuten, was bei der „forschenden Arbeit“ so entstanden ist.
Das Titelstück „Penumbra“ zum Beispiel verausgabt sich nicht vom ersten Moment an, es erschöpft sich nicht in hoch-tourigen drum patterns, umspült von keyboard-Girlanden. Einzelne drum-beats werden transformiert, sie laufen rückwärts, trudeln in der Tonhöhe, werden gerahmt von dunklen keyboard-Farben. Ja, hier kann man den Titel durchaus in seiner wahrnehmungspsychologischen Bedeutung als „weicher, unscharfer Umriss eines Schattens“ wahrnehmen.
Dabei dauert „Penumbra“ lediglich 54 Sekunden. Hier wäre länger wahrscheinlich Mehr geworden.
Oder mit andereren Worten: hier mag, wer will, sich aufgerufen fühlen, den Fortgang zu fantasieren.
Das wäre eine Utopie, indeed.
erstellt: 22.12.22
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