ZURICH JAZZ ORCHESTRA & STEFFEN SCHORN Dedications *********
01. The Mad Code (Schorn), 02. Monsieur PF, 03. So eine…, 04. Martha, 05. Til Charlotte (Haug), 06. Walzer Part I (Schorn), 07. Walzer Part II, 08. Walzer Part III
Steffen Schorn - saxes, flutes, clarinets, tp, ep, synth, melodica, Murat Cevik - fl, Reto Anneler - fl, cl, ss, as, Lukas Heuss - as, cl, Thomas Lüthi - ts, cl, Tobias Pfister - ts, bil, Nils Fischer - bars, tubas, bcl, Patrick Ottiger, Wolfgang Häuptli, Bernhard Schoch, Raphael Kalt - tp, flgh, Adrian Weber, René Mosele, Silvio Cadotsch, Don Randolph - tb, Gregor Müller - p, keyb, Theo Kapilidis - g, Patrick Sommer - b, bg, Pius Baschnagel - dr, per
rec. 25.-27.09.2020
Mons Records MR74634
„Dedications“, Widmungen - nicht gerade ein Aufreger-Thema im Jazz. In der Szene wimmelt es geradezu davon.
Wer, bevor er den ersten Ton dieses Albums hört, dessen Meta-Daten (wie es heute heißt) absucht, entdeckt allerdings keinen der üblichen Widmungs-Empfänger, keine Standards, auch keine „im Stile von“-
Kompositionen.
Die Geehrten sind in keiner Weise stilistisch inhaltsleitend. Es handelt sich überwiegend um Privatpersonen: die Großmutter von Steffen Schorn („Martha“), die Managerin der Big Band, pardon des Orchesters (wir kommen darauf zurück) Bettina Uhlmann („So eine…).
Achtung Gender-Police: das Genus bezieht sich nicht auf den Sexus von Frau Uhlmann, sondern auf dem mitgedachten Begriff „So eine…Eile“.
„Charlotte“, die einzige Fremdkomposition dieser Produktion, von Lars Andreas Haug, ist benannt nach der Tochter des Leaders, und der dreiteilige „Walzer“ stammt aus dem gemeinsamen Repoertoire Schorns mit dem Klarinettisten Claudio Puntin.
Achtung Musikologen: hier böte sich ein Dissertationsthema an; vergleiche Goebbels & Harth mit Schorn & Puntin unter der Maßgabe, dass die beiden Duos nach ihrer Auflösung in zwei sehr ungleiche Hälften zerfielen, wobei die eine (Goebbels, Schorn) deutlich ihren Schwerpunkt auf das Großorchestrale verlegt hat. (Wir kommen auch darauf zurück).
(Wir können nicht ausschließen, dass dieser Rezensenten-Fantasie nachzugehen zwar mit viel großartiger Musik verbunden, aber akademisch völlig unergiebig ist).
Das Album beginnt mit dem einzig bedeutsamen Widmungs-Addressaten; und wer aus dem knapp zwei Minuten von „The Mad Code“ Beethoven herauszuhören vermag - der darf sich in Liechenstein kostenfrei einen Doktortitel abholen.
Herr Schorn öffnet hier seinen deutsch-helvetischen Handwerkskasten. Unfassbar, wie er damit in so kurzer Zeit eine solche Architektur dahinzaubert.
„Das Stück ist extrem kompakt und herausfordernd mit schnell wechselnden, fast wahnsinnigen Gefühlszuständen, die die Grenzen dessen, was mit einem Jazzorchester machbar ist, ausreizen“, schreibt der Komponist. Mit Referenz auf Strukturen bei Beethoven.
Und er übertreibt keineswegs. Denn es ist wahr. Und man wundert sich über die Kompetenz der Mitglieder dieses Jazzorchesters, einen solchen Irrsinn unfallfrei vorzutragen. Hier sind ja kaum die Stars des Schweizer Jazz versammelt.
Schlangenlinien, die sich durch Holz- und Blechbläser winden, gebrochen, gespiegelt, von hinten aufgerollt, in einem wogenden Feld sich ausruhen, bevor sie wieder von einem Marsch auf Vordermann gebracht werden.
Der kein Marsch ist.
Diese 1 Minute und 56 Sekunden haben es in sich. Sie verfügen zweifellos über Rhythmik, man kann geschichtete staccato-Rhythmen erkennen - aber keinen Beat, erst recht keinen Groove. Und nicht einen Funken Improvisation!
„The Mad Code“ dürfte nicht nur das jüngste, sondern auch das kürzeste Beispiel jener Kategorie sein, der das angebliche Alleinstellungmerkmal der Gattung abgeht - und das gleichwohl dazugehört!
Abgesehen davon, dass der Urheber ein Jazzkomponist ist (und in dieser Rolle noch zu wenig gewürdigt), abgesehen auch davon, dass „The Mad Code“ als Solo-Klavier-Stück für das Projekt "250 piano pieces for Beethoven der Pianistin Susanne Kessel geschrieben wurde (man würde nur zu gerne diese Fassung hören!*) - ein klassischer Klangkörper, vom Ensemble Modern bis zu den Berliner Philharmonikern, würde damit anders umgehen.
Es mag Zufall sein, dass die Zürcher sich nicht Big Band nennen, sondern Orchestra: im Kontext ihres composer in residence Steffen Schorn aus Brühl/NRW aber fügen sich Wort und Inhalt zu einem höchst passenden Begriff.
In grober Zuordnung gehört „Dedications“ zweifellos unter das große Dach „contemporary Big Band Jazz“; aber wem das nicht reicht, wer genauer hinhören will, dem entgehen eben nicht die Schnittmengen mit der Sinfonischen Abteilung.
Schorn ist in diesem akustischen Brackwasser bestens ausgewiesen. Er hat für lockere Klassiker geschrieben, das Norwegian Wind Ensemble, aber auch für strenge Klassiker, so streng wie ein Streichquartett, das Rascher Saxophone Quartet.
„Monsieur Pf“, das zweite Stück, könnten weder Ensemble Modern noch die Berliner Philharmoniker spielen. Das Stück hat einen Beat, einen Calypso-nahen Groove. Sowie die hell klingende snare von Pius Baschnagel.
Und läse man nicht, dass das Stück einem deutschen Polizisten mit großem Humorpotenzial gewidmet sei - vom melodischen Duktus her könnte man es als verspätetes Ständchen zum Sechzigsten von Django Bates hören.
Schorn setzt hier geschickt ein Instrument ein, das bei Django gar nicht vorkommt (wohl aber beim „Schweizer“ Nils Wogram), die Melodica. Wunderbar, wie sich dieses „proletarische“ Instrument mit und alternativ zu den Bläsern behaupten kann.
Im schon erwähnten „So eine…(…Hektik aber auch immer)“, einer knalligen Jazzrock-Nummer, rückt erneut Baschnagel nach vorn, und hinten durchwehen Keyboard-Flächen die Bläsersätze, ein durchaus unübliches Verfahren.
Und immer wieder die tiefen Register: Basstrompete, Baßflöte, Subkontrabaßsaxophon (Tubax).
Es folgen zwei farbig ausgleuchtete Balladen; worunter das schon erwähnte „Martha“, rubato gespielt, durch quasi sinfonischen Duktus auffällt. Das Stück ist als „collective solo“ benannt, im Gegensatz zu „The Mad Code“ spült das großformatige Blubbern auch improvisierte Partikel nach oben. Erkennbar auch hier eine Distanz zur üblichen Big Band Praxis.
Der abschließende „Walzer“ greift in drei Teilen das gleichnamige Stück aus dem Album „Elephant´s Love Affair“ des Schorn/Puntin Duos von 1993 auf. Es dauerte damals 5 Minuten, jetzt mehr als doppelt so viel. Schorn wendet, wie er schreibt, eine Reihe „spezifisch sinfonischer Kompositionstechniken“ an, wie „Entfalten harmonischer Schichtungen, melodische Rotationen und Umkehrungen“.
Das Stück strebt im Übergang der Teile II und II in voller Bandbreite einem Klimax zu, und schmeckt zum Abschluß polyphon noch einmal die Themen nach.
Das nennt man nun wirklich Architektur.
* Susanne Kessel: 250 Piano Pieces for Beethoven, Compilation 2
erstellt: 11.08.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten