NILS WOGRAM Bright Lights **********
1. Lullaby Part I (Wogram), 2. Levity, 3. A humbled Man, 4. Hello again, 5. Trip to Staten Island, 6. Jasmin, 7. The Beauty of Odds,
8. Lullaby Part II
Nils Wogram - tb
rec. 24.05.2020
NWog Records nwog 033
48 Jahre nach Albert Mangelsdorff (1928-2005)) legt der heute führende deutsche Jazzposaunist ein Solo-Album vor.
48 Jahre nach dem weltweit ersten Jazzfestival ausschließlich mit Solisten (das eigentlich nur ein Tag innerhalb des Festivals „Jazz Now“ war): „Solo Now“, im Münchner Herkulessaal, im Rahmen des olympischen Kulturfestivals, organisiert von Joachim Ernst Berendt, 1972.
Das ist das Geburtsjahr von Nils Wogram.
Wenige Wochen nach München, im Herbst 1972, dokumentiert Mangelsdorff auch im Studio („Trombirds“), was er bei Olympia premiert hatte: multiphonics, das mehrstimmige Spiel auf einem an sich einstimmigen Instrument: ein Ton wird gespielt, ein weiterer gesungen - sie schaukeln sich zur Mehrstimmingkeit hoch.
Mangelsdorff hat seinerzeit bis zu fünf Obertöne gehört.
Heute sind multiphonics nicht gerade Standard unter Posaunisten, aber doch verbreitet (vereinzelt sogar unter Trompetern). Wogram beherrscht die Technik seit langem, er legt Wert darauf, sich nicht mit dem Einstreuen von Effekten zufrieden zu geben, sondern das Verfahren umfassend musikalisch anzuwenden: melodisch, harmonisch, groovend.
„Bright Lights“ kann zu den Corona-Projekten gezählt werden. Der Ausfall von Konzerten, zum Beispiel eine komplett durchgeplante Root 70-Tournee, bot Zeit, den lange verfolgten Gedanken zu realisieren.
Eine erste Solo-Präsentation im Netz (kurz nach der Studioaufnahme) in einem leeren Club am Zürichsee war für den seit einigen Jahren dort Wohnenden freilich nicht der erste Solo-Auftritt.
Hans-Martin Müller, Kölner Jazz-Gedächtnis extraordinaire, verweist auf die wirkliche Premiere im „Loft“, 1999.
Steve Lacy, der nach seinen Worten am selben Abend den Unnahbaren gegeben haben soll, habe sich, nachdem er den jungen Wogram solo gehört habe, nicht ungebührlich lange um ein Duo bitten lassen.
Ein ganzes Album lang Solo-Posaune (auch wenn es laut Display lediglich 34 Minuten und 9 Sekunden sind), seien wir ehrlich, das ist nicht nur auf Künstler-, sondern auch auf Hörerseite anspruchsvoll.
Und die Chance groß, dass gar manche, die Wogram im Ensemble, beispielsweise im stupenden Root 70, schätzen, seinen aufmunternden Satz „Der Charakter der Posaune ist extrem wandelbar“ nicht unbedingt als Einladung verstehen.
Andererseits, wem wenn nicht Nils Wogram (und wir übertreiben hier nur ein ganz klein wenig) sollte der klingende Beleg für diese These gelingen?
Der Einstieg jedenfalls ist ungemein suggestiv, ein „Lullaby“, ein Wiegenlied, aber für Erwachsene. Denn dieser Weckruf von zwei Minuten Länge kann einfach nicht die sympathische Assoziation abschütteln, dass er ein paar Noten mit einem wunderbaren Gassenhauer teilt: mit Friedrich Hollaenders „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, aus dem Film „Der blaue Engel“, 1930, gesungen von Marlene Dietrich.
Die Posaune kommt trocken & klar - so kann es nicht bleiben.
Es folgt ein schneller Lauf mit allerlei multiphonics-Injektionen, die in „Levity“ zunehmend die Oberhand gewinnen. Sie gehorchen wie die „reinen“ Töne einem Groove. Wogram macht das deutlich, indem er an einer Stelle sozusagen tonlos in sein Instrument bläst und den perkussiven Untersatz, den man die ganze Zeit mitverfolgt hat, auch tatsächlich perkussiv ausführt.
„A humbled Man“: das Stück enthält ein paar Licks a la Mangelsdorff, es beginnt in breiten multiphonics - und könnte, wenn man im Titel das Image des Albert Mangelsdorff entschlüsseln mag („a humbled Man“, ein bescheidener Mann) als Hommage verstanden werden.
„Hello again“ swingt a la Mangelsdorff, mit einem geradezu kantilenenhaften Thema.
Und hier, nach zwei Stücken, enden die AM-Analogien. In „Jammin“ macht Wogram etwas, was Mangelsdorff nie gemacht hat: er schließt das Stück mit Obertongesang (im übrigen ein starker Moment in der gerade beendeten Root 70-Tournee: wenn Wogram und Hayden Chisholm beide diese Gesangstechnik anwenden).
„The Beauty of Odds“ entpuppt sich, nach einem langem Intro, als Blues - und entkommt doch rasch wieder den Erwartungen an die Form. Wogram brilliert in einem wundervollen Wechselspiel aus time und Nicht-time.
Er verabschiedet sich mit der Wiederkehr von „Lullaby“, als Calypso.
Und man möchte wetten, ob diese knapp drei Minuten nicht irgendwann eine Filmszene untermalen. Mit deutlichem Humor.
PS: derjenige, der den Pressetext zu diesem - bedeutenden - Album geschrieben hat (wir haben da so eine Ahnung!), er schlägt mal wieder einen logischen Purzelbaum der Extraklasse!
Schon klar, dass in einer Gattung, die zwar stets & ständig das Individuelle, ja das Persönliche der Künstler betont, ein Begriff dafür strengstens untersagt ist („Ego“). Bevorzugt wird stattdessen eine vulgär-metaphysische Pose.
„Es geht ihm nicht um sein persönliches Standing als Spieler oder Virtuose“.
Ok, wenn damit zum Ausdruck kommen soll, dass Wogram mit dieser Leistung nicht angeben will, kann man das gerade noch nachvollziehen. Aber der folgende Satz stellt, mal wieder, alles auf den Kopf:
„Wie auch in all seinen anderen Projekten tritt er mit seinem Ego ganz und gar hinter der Musik zurück, was ihn wiederum als musizierendes Individuum umso stärker macht.“
(Geht in Ordnung - sowieso - genau; Eckhard Henscheid)
erstellt: 17.10.20
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