NILS WOGRAM The Prestine Sound of Root 70 ******

01. Beatrice´s Rituals (Wogram), 02. Fleeting Modernity, 03. Va Lentement, 04. The Utopian, 05. Perfect Snow, 06. Ambiguity, 07. Change of Scene, 08. Kairos, 09. Tchavolo

Nils Wogram - tb, melodica, Hayden Chisholm - as, Matt Penman - b, Jochen Rückert - dr

rec. 21./22.09.2022
Nwog Records 054

Wenn eine Band - zumal eine der führenden des europäischen Jazz - in 23 Jahren neun Alben veröffentlicht, dann ist wohl zur Abwechslung auch mal ein Blick auf eine Nebensache angezeigt.
Sprechen wir also mal über die Kommunikationsstrategie von Root 70.
Da tut sich nämlich eine bemerkenswerte Lücke auf zwischen der Textsorte, die Journalisten verabreicht wird (der sogenannte Waschzettel) und dem, was für den finalen user - früher nannte man ihn Käufer - bestimmt ist, die liner notes.
Die Waschzettel für Root 70 sind Produkte der gemeinen Jazzpublizistik. Werblich, derb, widersprüchlich.
So heisste es heuer: „Root 70 bleiben sich treu, indem die Gruppe einmal mehr mit Erwartungen bricht“. Und nur einen Satz später:
„So scheint die Band ihrer Hörerschaft sagen zu wollen: Wir erzählen euch eine Geschichte, die ihr alle kennt, aber wir wissen, dass ihr sie immer wieder hören wollt. Denn genau das ist es, was wir auch hören wollen“.
Sich Widersprechen auf engstem Raum. That´s Jazz. Das fällt kaum noch auf.
Diese Waschzettel kommen nicht vom Zürich-See, der neuen Heimat des Bandleaders Nils Wogram, sie kommen aus der Berliner Jazzmanufaktur.
Die liner notes zu „The Prestine Sound of Root 70“ hingegen kommen aus New York City. Sie kommen aus der Feder eines Lateinamerikaners, Ahmet Shabo. Er hat sich schon früher nützlich gemacht, auf den Alben „Listen to your Woman“ (2010) sowie „Luxury Habits“ (2016).
Zwar scheint sein Vorname Tippfehler zu begünstigen, heute Ahmet, früher Ahmed oder auch Ahmned. Dafür kann man ihn aber nun auch eines Blickes würdigen: Nils Wogram legt seinen Arm um die Schulter eines älteren, etwas untersetzten Herrn mit schütterem Haupthaar. Ja das könnte jener mittel-amerikanische Intellektuelle sein, „der den Mitgliedern von Root 70 vor einigen Jahren in New York City begegnete“.
Als deutliche Zeichen seiner Identität entpuppen sich einmal mehr Präzision und Detailreichtum des Zuhörens. Seine liner notes lesen sich, als wäre er schon Teil der Band.
cover root70 pristineWessen Hörerfahrung ließe z.B. eine solche Tiefenbohrung zu wie die von Shabo, das Intro im ersten Stück, „Beatrice´s Rituals“, dem indischen Alap-Stil zuzuordnen?
Alap, so finden wir a.s.a.p. in Wikipedia „ist eine Form der melodischen Improvisation, die einen Raga einführt und entwickelt“.
(Böhmermann würde hier auf die buttons hauen: wow!)
Wir schlichte Hörer würden hier einfach den Begriff rubato verwenden.
Und wir würden auch nicht unbedingt, jedenfalls nicht für das gesamte Album, die Lyrizismen nachschmecken, die Shabo zu vielen Details einfallen, und am wenigsten wohl sein überschwängliches finish teilen:
„Jazz ist, wie die Kunst, das Leben und die Bäume, seit jeher eine Familienangelegenheit. Ein winziges Samenkorn blüht, und eines Tages wachsen aus seinem Stamm Äste, dann Zweige, und schon bald sind die Blätter an diesen zarten Trieben so frisch und grün und erfreuen die Sinne wie der junge Baum selbst…“

Wobei dem Titel des Albums - nomen est omen - nicht zu widerspechen ist. Dieses Quartett verfügt nicht nur über einen unverfälschten Klang („prestine sound“), sondern über ein sehr eigenes Konzept.
Es ist ungeheuer ausgefeilt, es wird mit Präzision vorgetragen - und doch könnten die inzwischen kräftigen Triebe gerne mehr ausschlagen (wir bleiben im Fibeldeutsch).
Es scheint, als habe diesmal „die gentlemenartige Zürückhaltung“, von der es in den liner notes heisst, sie sei „bei der Band das Gebot der Stunde“, zu sehr den Drang zur Bewegung gehemmt.
Es gibt wenig, wofür man den bowlerhat spontan in die Luft werfen müsste, weil es den Herrn nicht mehr im Sessel hält.
Aber, dejavu, das hatten wir schon mal, nämlich 2016, als „Luxury Habits“ - noch so ein Prachtstück aus der Root 70-Poesie - gegenüber dem Vorgänger das Gaspedal beherzt mehr herunterzudrücken gewillt war.
„Das ist ein Jazz, der verschwenderisch aus dem Vollen schöpft“, wollte uns damals dazu einfallen.
Und wir träfen uns gerne mit Señor Shabo auf einen Tee, um - bei aller gebotenen Zurückhaltug - eine kleine Wette darauf abzuschließen, ob nicht nach dem Gesetz der Zahl („Luxury Habits“ war das achte Album) das nächste, die Nr. 10, wieder ein wenig frühlingshafter ausfallen wird. Es darf auch gerne stürmen, auf diesem Niveau.

erstellt: 28.10.23
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