CANNONBALL ADDERLEY QUINTET with JOE ZAWINUL Live in Graz & Vienna, 1969 ********

01. LP1 / Seite A »You know, our Pianist is Viennese …« (Cannonball Adderley), 02. LP1 / Seite A 74 Miles Away (Zawinul), 03. LP1 / Seite A Piano Medley,  04. LP1 / Seite B Rumpelstilzkin, 05. LP1 / Seite B Manhã de Carnaval (Luiz Bonfá),
06. LP2 / Seite A Work Song (Nat Adderley), 07. LP2 / Seite A Allegro theme from Experience in E (William Fischer/Joe Zawinul),
08. LP2 / Seite B Somewhere (Leonard Bernstein), 09. LP2 / Seite B Walk Tall (Zawinul), 10. LP2 / Seite B Oh Babe (Julian Adderley, Nat Adderley), 11. LP2 / Seite B Mercy, Mercy, Mercy (Zawinul), 12. LP2 / Seite B The Scene (Nat Adderley, Zawinul)

Julian Cannonball Adderley - as, Nat Adderley - cornet, voc (10), Joe Zawinul - p, ep, Victor Gaskin - b, Roy McCurdy - dr

rec. 15.03.1969 (Graz), 16.03.1969 (Wien)

ORF-LP3258,
Bezugsquelle, 34,61 €

Dies ist eine local-boy-makes-good-Story. Und eine saugute obendrein.
Vier Wochen, nachdem er in New York City Miles Davis bei „In a silent Way“ assistiert hatte, kehrt Joe Zawinul (1932-2007) auf einer Europa-Tournee für zwei Konzerte in seine Heimat Österreich zurück.
Es ist nicht sein erster Besuch, nachdem er „im Jänner 1959 ausgezogen war, um den Jazz in dessen Mutterland zu studieren“ (liner Notes dieser Do-LP).
Er kehrt zurück als Pianist einer Band, der er seit Juni 1961 bis in Jahr 1970, der Gründung von Weather Report, angehört; eines der klassischen Ensembles des späten Hardbop, mitunter auch Soul Jazz genannt - das Cannonball Adderley Quintet.
Und es ist Zawinul, „das Arbeiterkind aus Wien-Landstraße“, das für diese Band mehr Stücke komponiert als der Bandleader selbst. Und der verrrät auch in einer seiner mit trockenem Humor versetzten Ansagen (track 1), warum:
„because he does it better than the rest of us“.
Dass ein weißer, ausgesprochener cis-Mann - ins Heutige übersetzt - die Musik der People of Color besser zum Ausdruck bringt als jene selbst und er von diesen obendrein freiwillig mit einem testimonial promoviert wird, solche beglaubigten Formen der kulturellen Aneignung sind auch heute bekannt; sie werden von angeklagten Künstlern schreckhaft vorgebracht.
Der Vorgang wurde damals, wenn auch mit anderem Vokabular, gleichfalls als bemerkenswert empfunden.
Sollten aber schon 1969 aufgebrachte Kader im Stefaniensaal zu Graz oder - noch viel schlimmer - in einem Tempel namens Konzerthaus Wien sich befunden haben, so wurden sie dank einer supercoolen Geste von Cannonball Adderley noch tiefer in ihre Sessel verwiesen.
„The last hip pianist from Vienna“ und zwar vor Zawinul, das war für die auch alt-europäisch gebildete PoC Cannonball gleichfalls ein Joe - „Joe Brahms“.
Ende der Aufregung.
Dem Auditorium in Graz versprach er ein rein musikalisches Zuckerl, voller Ironie und in doppelter Verneinung:
„You know, our pianist - I'm sure most of you folks know - is Viennese. And we accuse him of making superior performances when we play in Austria. (...) Not that he doesn't play well all the time, but I get the feeling he gets a little extra momentum“.
Und das war nicht zuviel versprochen - der Zawinul, Josef (manche nennen ihn auch „Zaw“) entspricht der Erwartung vollumfänglich. Die beiden Radio- und TV-Mitschnitte tragen seinen Namen völlig zu recht neben dem des Bandleaders.
cover Adderley Graz 1969   1Mehr noch, nach der eröffnenden knappen Viertelstunde des Konzertes („74 Miles away“, natürlich nicht ohne scherzhafte Bemerkung über die tatsächliche Distanz zwischen der Hauptstadt der Steiermark zur Haupstadt des Landes) überlässt Cannonball (1928-1975) die Bühne komplett dem verehrten local boy allein; zu einem, wie der Titel ankündigt, „Piano Medley“.
Dass dieser Piano-Salat wirklich „sensationell“ angerichtet wird, wie es der heutige Ö1-Jazzredakteur Andreas Felber in seinen kundigen liner notes bewertet, können wir nicht ganz nachvollziehen. Zumal der Flügel im Stefaniensaal in den dynamischen Spitzen die Grenze zum Klirren überwindet.
Richtig aber, dass Zaw unter Einfluss von Art Tatum durch Standards wie „Little Girl blue“ und „My one and only Love“ hüpft und am längsten bei „Willow weep for me“ verweilt.
Der Referenzrahmen im Stück zuvor, „74 Miles away“, ist ein anderer. Das Thema dieser modalen Zawinul-Komposition beruht auf voicings a la McCoy Tyner; mitunter hält er sie auch in seinem Solo in der linken Hand, während er mit der rechten selbstredend eigene Wege geht, bis hin zu clustern kurz vor Schluß.
„74 Miles away“ ist schon mal eine Wegmarke, für das, was noch folgt. Der 7/4-Takt wird kaum markiert.
Und damit wir es später nicht vergessen zu betonen, sei hier schon mal auf die - wahrscheinlich als Produkt der Aufnahmetechnik - „hoch“ klingende snare von Roy McCurdy hingewiesen. Dieser Sound stellt perfekt die wandernden Akzente dieses selten besungenen Helden des Jazz-Funk heraus; damals war er 32, inzwischen ist er 86 Jahre alt.
„Rumpelstilzkin“ (nicht-identische Stücke mit demselben Titel tauchen auf bei David Sanborn, 1996, und Andy Summers, 1987), man darf annehmen, dass der Österreicher Zawinul einen „authentischeren“ Zugriff hat auf das Märchen der Gebrüder Grimm, ist ein Jazz-Funk, der die drei Solisten des Ensembles ungeheuer inspiriert, zunächst Cannonball, dann Nat Adderley (1931-2000), der das Cornet als Feuerwehrspritze einsetzt (alter jazzmen-talk über das Erreichen hoher Töne) - und dann, typisch für ihn, damit auch in den Keller fällt.
In Zawinuls Solo meint man von der Phrasierung her den „Freedom Jazz Dance“ geistig mitlaufen zu hören. Nach mächtigen Blockakkorden a la McCoy Tyner löscht er eine Solo-Kadenz (viel „logischer“ als zuvor in seinem Medley) mit clustern a la Cecil Taylor. Hier haben wir u.a. das Extra-Momentum, das Cannonball Adderley seinen Zuhörern verspricht.
Im nächsten track, „Manhã de Carnaval“, einer Ballade von Luiz Bonfá, geht es - um im Bild zu bleiben - verloren: Victor Gaskin (1934-2012) streicht ein Baß-Solo, das exorbitant schlecht intoniert ist. Punktabzug.
Später, bei Bernsteins „Somewhere“ harmoniert er in einer arco-Altsax-Passage wesentlich besser.
Ab „Walk Tall“ wechselt Zawinul zum E-Piano. Die Band nimmt das Stück in einem leicht erhöhten Tempo - und ohne jedes Solo! „Walk Tall“ am 16. März 1969 im Konzerthaus Wien muss hinfort zu den „klassischen“ Beispielen in der Kategorie „Jazzstück OHNE Improvisation“ gezählt werden (in manch engstirniger Definition gehörte es deshalb gar nicht dazu, obwohl es in allen anderen Parametern sowas von jazzig-bluesig klingt).
Es folgt der Shuffle-Blues „Oh Babe“, in welchem Nat Adderley auch singt (sein Bruder annonciert ihn launig als „he comes from good family“).
„Walk Tall“ ist mit zwei Minuten recht kurz; es wirkt, als werde den Zuhörern etwas vorenthalten, und ähnliches ließe sich über das letzte Schlachtroß dieses Mitschnittes sagen: „ Mercy, Mercy, Mercy“, in verlangsamten Tempo. Man hätte auch hier liebend gerne das bluesig-dreckige E-Piano von Joe Zawinul länger, viel länger gehört.

erstellt: 13.10.23
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