KAJA DRAKSLER & SUSANA SANTOS SILVA Grow ********
01. Moonrise (Draksler, Santos Silva), 02. Close, 03. Liquid Rock, 04. Grow
Kaja Draksler - p, Susana Santos Silva - tp
rec. 07.07.2021
Intakt CD 391/2022
Chapeau, wer die ersten siebeneinhalb Minuten anstandslos durchhält.
Mehrfach undefinierte Tonhöhen von Trompete und präpariertem Piano, kein Beat, kein Groove nirgends, zumindest zunächst, minimal piano patterns später - Avantgarde rulez!
Kaja Draksler und Susana Santos Silva spielen sich ein, öffnen ihren Handwerkskasten, sichern das Gelände, vergewissern sich des Genres.
Die liner notes tun ihr Übriges:
„Sie haben individuelle Universen voller wertvoller Verbindungen, Umwege und herausfordernder Wege zwischen Jazztradition, nicht-idiomatischer Improvisation und zeitgenössischen Klängen und Ansätzen geschaffen. Als Komponistinnen und Interpretinnen haben sie ihre kreativen Räume unaufhörlich erweitert und von ihren Wohnorten aus - Kopenhagen (Draksler) und Stockholm (Santos Silva) - facettenreiche Karrieren aufgebaut“.
Hier sind Adjektivismus und Attributismus des zeitgenössichen liner notes-Schreibens ganz bei sich. Es ist ein Notstand.
Er zeigt sich in diesem Text (von Guy Peters), der sich vollständig von seiner dienenden Funktion (die betreffende Musik zu erklären, vielleicht gar als Hörhilfe) löst und in großer Entfernung über dem Klingenden schwebt, beladen mit allerlei Superlativen.
Man wäre nicht gänzlich überrascht, wenn irgendein Philologe eine Verwandtschaft zu einer uns sehr fremden Textsorte fände, nämlich zum afrikanischen Preislied.
Der Übergang von „Moonrise“ zu „Close“ geschieht übergangslos, man erkennt ihn nur am Display des CD-Players - aber es kippt das Bild.
Man könnte vordergründig den CD-Titel heranziehen, „Grow“; hier wächst etwas. Flatterzunge von der Trompete, das von einem ähnlich tremolierenden Teil des Pianos begleitet wird, im Hintergrund ein Liegeklang, ein drone (im Titelstück werden später noch zwei weitere auftauchen).
Mit anderen Worten: das Klangbild entfaltet sich um Faktor x, jedenfalls um mehr als lediglich die beiden Instrumente „Piano“ und „Trumpet“, die das Cover angibt.
Und die liner notes lüften mit dem Stichwort „EBow“ einen Teil des Geheimnisses, warum hier mehr als nur zwei Stimmen erklingen.
Mit Hilfe eines EBow, also elektro-mechanisch, bringt Draksler manche der Klaviersaiten in abweichende Schwingungen - die Performance gewinnt deutlich an Kontur, sie wölbt sich sich über einem Teppich.
Nach fünf Minuten, der Hälfte von „Close“ senkt sich der Bogen hinab. Pausen. Klang-„Tropfen“ von Piano und Trompete. Was für eine Spannung, wie sich die Ereingnisse verdichten, wie das Piano einen geheimnisvollen off pitch-Effekt annimmt.
Santos Silva schnattert, schmatzt, bläst ins Rohr, Draksler schabt die Saiten, old school-Avantgarde, die aber auf Grund der ersten Hälfte des Stückes einen anderen Sinn ergibt. Man könnte auch sagen, eine andere „Narration“.
Das Perkussive bleibt - übergangslos - in „Liquid Rock“ erhalten, verdichtet sich zu „Schritten“. Jetzt ist, würde unser Freund Stock einwerfen, die „Flughöhe“ erreicht. Die beiden können machen, was sie wollen, darunter bis zu 8 Sekunden lange Pausen - auf diesem Level verfolgt man mit Spannung einer jeder Klangbewegung.
Jetzt auch kommt der Raum ins Spiel, die KoncertKirken in Kopenhagen, im Rahmen des Copenhagen Jazz Festival 2021. Die Trompete versickert in seinem Klangschatten.
„Liquid Rock“ ist eine wunderbare Klangerzählung; und wenn sie nicht gänzlich improvisiert ist, dann bestimmt auch ein wenig komponiert.
Wem Klang als Klang nicht reicht, wer visuellen Auslauf benötigt, um sich die Kraft der Texturen zu vergegenwärtigen, der darf sich hier gerne film noire-Assoziationen überlassen.
Das narrativ starke Titelstück bietet dazu reichlich Anlaß. Man wüsste auch gerne, welch instrumentaler Konstellation die nunmehr zwei drones ihr Entstehen verdanken. Die booklet, wie gesagt, gibt hier nichts her. Es ist bei weitem nicht auf der Höhe dessen, wem es dienen soll - einem zauberhaften Duo der europäischen Frei Improvisierten Musik.
erstellt: 01.12.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten