TERRI LYNE CARRINGTON New Standards Vol 1 ******
01. Wind Flower (Sara Cassey), 02. Circling (Gretchen Parlato), 03. Uplifted Heart (Shamie Royston), 04. Moments (Eliane Elias), 05. Continental Cliff (Patricia Perez), 06. Throw It Away (Abbey Lincoln), 07. Respected Destroyer (Brandee Younger), 08. Two Hearts (Lawns) (Carla Bley), 09. Unchanged (Marta Sanchez), 10. Ima (Anat Cohen), 11. Rounds (Marilyn Crispell)
Terri Lyne Carrington - dr, Kris Davis - p, Linda May Han Oh - b, Nicholas Payton - tp, Matthew Stevens - g, Ambrose Akinmusire - tp (11), Melanie Charles - voc (6), Ravi Coltrane - ts (7,8), Val Jeanty - perc, Samara Joy - voc (8), Julian Lage - g (1), Michael Mayo, Elena Pinderhughes - fl (1,3,7), Dianne Reeves - voc, Negah Santos, Somi - voc (6)
rec. 2022?
Candid 05231591
Onkel Herbie wird im Kontext dieser Produktion gerne vergessen.
Herbie Hancock hat 1995 - wenn auch mit gänzlich anderer Zielsetzung - ein ähnliches Projekt veröffentlicht: „The New Standard“. Ihm war daran gelegen, den Kanon des Jazz, seine lingua franca, eben Standards, um andere Komponisten zu erweitern.
Also nicht immer nur Monk, Mingus, Ellington, Gershwin, Rodgers & Hart, Oscar Hammerstein and the likes, sondern auch Peter Gabriel, Kurt Cobain, Prince, Stevie Wonder, Donald Fagen, Walter Becker, Simon & Garfunkel sowie Lennon & McCartney in den Olymp der Gattung aufzunehmen.
Zumindest die Wahl der letzten beiden Autoren offenbart, dass Hancock wenigstens bei einigen offene Türen einrannte; 1995, da konnte man schon ganze Abende mit Beatles Jazzcover-Versionen verbringen.
Das Projekt selbst rückte in der Folge auch nicht in die belle etage seiner Discographie; wir erinnern uns an ein mäßiges Konzert auf der entsprechenden Tour im Robert Schumann-Saal, Düsseldorf.
Eine Kuriosität am Rande, kaum bemerkt: 2014 versuchten Jamie Saft, Steve Swallow, Bobby Previte mit „The New Standard“ quasi sich selbst zu adeln, mit ausschließlich eigenen Stücken.
Standards nicht einfach nur zu interpretieren (noch dazu originell) ist das Eine, etwas Anderes ist es, bis dato nicht dazugehörige Kompositionen als solche zu promovieren. Es ist ein Versprechen auf die Zukunft. Folgen andere KollegInnen nicht - bleibt den betreffenden Songs der höhere Status verwehrt.
Bei Hancocks Elf von 1995 trifft dies auf 10 seiner Auswahl zu; der einzige Treffer, „Norwegian Wood“, war - siehe oben - bereits ein Standard.
Ob Terri Lyne Carringtons Auswahl (wiederum elf) den „test of time“ bestehen wird, ist (pardon für die Tautologie) ebenso ungewiß.
Die Leiterin des Institute for Jazz and Gender Justice am Berklee College of Music in Boston wird sich mit solchen Maßstäben nicht zufrieden geben, sie hat eine Mission. Sie will generell den Anteil der Frauen im Kanon erhöhen. Ein Forum, wo sich dieser manifestiert, sind die fake books, inzwischen Real Books genannt, Sammlungen von sogenannten lead sheets, also Themen und Akkordfolgen von Jazzstücken, einst fotokopiert, inzwischen ordentlich ediert.
Diese weltweit verbreiteten Spielvorlagen - wen wundert´s - enthalten wenige Komponistinnen, also hat Carrington jüngst ein Alternativ-Volumen auf den Markt gebracht „New Standards: 101 Lead Sheets by Women Composers“.
Es handelt sich nicht um 101 Stücke von x Komponistinnen, sondern 101 von 101. Die Auswahl ist - wen wundert´s - Amerika-konzentriert.
Man findet die Klassikerinnen darunter (Geri Allen, Lil Hardin Armstrong, Carla Bley, Alice Coltrane, Maria Schneider, Mary Lou Williams), aber auch Europäerinnen mit US-Bezug (Sylvie Courvoisier, Ingrid Laubrock, Monika Herzig) sowie - überraschend bei diesem Schwerpunkt - Anke Helfrich und Laura Jurd.
Carrington selbst zählt sich - nicht unberechtigt dazu - sowie die beiden Mitarbeiterinnen ihres Institutes, die auch hier mitspielen: Kris Davis und Linda May Han Oh.
(Hingegen fehlen - nun wirklich überraschend - Holly Cole und Robin Holcomb, von Irene Schweizer und Lindsay Cooper ganz zu schweigen).
„New Standards Vol 1“ ist nun die erste akustische Selektion aus diesem großen Ganzen.
Sie beginnt mit einem Stück, das weniger Entdeckung ist als vielmehr Erinnerung, Erinnerung an Sara Cassey (1929-1966), laut discogs eine Pianistin, nicht aber ausführende Jazzpianistin, die gleichwohl für Riverside Records tätig war und ihre Stücke nicht als lead sheets herausgab (also Melodie plus Akkordsymbole) sondern als voll ausgeschriebene Kompositionen.
„Wind Flower“ z.B., ein typisches HardBop-Stück, wurde von Herb Ellis, Richard Davis, Mel Lewis, sowie mehrfach von Hank Jones eingespielt, u.a. mit seinem Great Jazz Trio (Ron Carter, Tony Williams) 1977.
„Wind Flower“ muss gar nicht mehr zum Standard promoviert werden - es ist es bereits. Nämliches gilt für „Lawns“; hier freilich gilt der Status weniger für das Stück als vielmehr für die Komponistin, Carla Bley, die wohl bedeutendste Autorin für Standards der Jazzgeschichte.
Neu an Carringtons „Lawns“ - der verlängerte Titel weist schon darauf hin - ist der Text, den sie dazu geschrieben hat (gesun-
gen von Samara Joy).
Demnach lässt sich hier, im Gegensatz zu allen anderen Stücken, ein Vergleich zum „Original“ ziehen, es stammt aus dem hervorragenden Album „Sextet“ von 1986/87. „Lawns“ dürfte eines der langsamsten Stücke der Jazzgeschichte sein; aber - trotz eines schönen Tenorsolos von Ravi Coltrane - diesen Zustand kurz vor dem Stillstand kriegen Frau Bley und ihre Mannen (u.a. Larry Willis) denn doch besser hin.
Überhaupt fällt auf, dass Terri Lyne Carrington expressive Momente eher scheut; auch da, wo sie sich anbieten, in den beiden Latin-Stücken „Uplifted Heart“ und „Continental Cliff“.
Insbesondere letzterem, von Patricia Perez, der zerklüfteten Melodik von Avishai Cohens International Vamp Band durchaus ähnlich, hätte mehr Drama sicher gut getan.
Es fehlt nicht an Arrangier-Ideen, z.B. das Afro-Feeling von Abbey Lincolns „Throw It Away“ oder der ungewönhlich harmonisierte Hardbop von Brandee Youngers „Respected Destroyer“, durchaus auch der Bossa Nova von Gretchen Parlatos „Circling“ (mit männlichem Gesang a la Michael Franks) - alles aber eher cool als expressiv inszeniert.
Ein Begriff aus der Popmusik möchte einem dazu einfallen, MOR, Middle of the Road (nunmehr MOR Jazz).
Nur einmal fällt das Kern-Ensemble aus dem Rahmen, im Schlusstrack „Rounds“, einer Art thematisch gebundenem FreeJazz-Stück von Marilyn Crispell, laut Zusatz „live“ mitgeschnitten. Hier glänzt Ambrose Akinmusire, tp, als Gast und die immer glänzende Kris Davis, p.
Aus dieser knappen Vorlage einen Standard zu erwarten, ist illusorisch, mit ein wenig Fantasie können solcherart begabte Musiker auch viel von Monk umher schaukeln.
Manche Rezensenten wollen in „New Standards Vol 1“ ein „politisches“ Projekt sehen. Es ist ein kultur-politisches. Ob es die vom Titel her beabsichtigte Wirkung zeigt, wird sich - wenn Carrington den Vollständigkeitsanspruch von 101 Stücken durchhält - erst nach weiteren ca 9 Alben zeigen.
Der Start ist Mittelmaß, mit einigen ihrer eigenen Projekte, z.B. „Wating Game“ beeindruckt Terri Lyne Carrington fraglos mehr.
erstellt: 04.11.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten