KIT DOWNES Dreamlife of Debris *******
01. Sculptor (Kit Downes), 02. Circinus, 03. Pinwheel, 04. Bodes, 05. Sunflower, 06. M7 (Ruth Goller), 07. Twin Kit Downes), 08. Blackeye (Downes, Challenger)
Kit Downes - p, org, Tom Challenger - ts, Lucy Railton - vc, Stian Westerhus - g, Sebastian Rochford - dr
rec. 11/2018
ECM 2632
Dieses Album ist im Norden Englands entstanden, in West Yorkshire, in einer Kirche in Huddersfield.
Sein mystischer Ort aber ist die Grafschaft Norfolk im Südosten Englands.
An der University of East Anglia in Norwich, lehrte einst der deutsche Schriftsteller W.G. Sebald (1944-2001).
Zu seinen bekanntesten Werken zählt „Die Ringe des Saturn“ (2005), ein Produkt seiner Wanderungen durch das benachbarte Suffolk.
Dort, in einer ehemaligen Römer-Siedlung, im Dorf Snape, befindet sich der zweite Aufnahmeort, die Kirche St. John the Baptist.
Was nun wo entstanden ist, verraten die liner notes nicht, sondern nur, dass die jeweiligen Aufnahmen zu den acht Stücken montiert wurden, wie wir sie nun hören.
Die genaue Genese zu kennen, wäre der Rezeption auch kaum weiter förderlich.
„Dreamlife of Debris“ ist zwar aus Regionalstolz entstanden; das, worauf er sich bezieht, kann man aber vielerorts auch entdecken bzw. imaginieren.
Der Titel „Dreamlife of Debris“ ist eine Phrase aus einer Doku über W.G. Sebald, sie zielt auf die verschlungenen Pfade auf dessen Wanderungen durch Suffolk. Das „Traumerleben von Trümmern“, so die deutsche Übersetzung, beeichnet als poetische Metapher all das Leblose, was dem Wanderer auffallen mag.
Es zeigt sich hier, in den Worten von Kit Downes, gleichsam als animistische Vorstellung, denn „wir können Emotion und Charakter auf nicht-belebte Objekte übertragen, bis zu dem Punkt, wo man meint, sie hätten ein eigenes Leben, so wie ein Musiker mit seinem Instrument; vor allem die Orgel, mit ihrer enormen, chaotischen Sammlung von Pfeifen, Flöten und Rohrblättern“.
Kit Downes, geboren 1986 in Norwich, ist Sebald-Fan. Mit „The Rings of Saturn“ gibt er auf seinem Orgel-Solo-Album „Obsidian“, 2016, einen ersten Hinweis darauf.
Das Instrument, die Kirchenorgel, bedient er seit Kindheitstagen, es ist sein Erstinstrument, lange vor dem Jazzpiano. Sie ist immer schon auch auf seinen Alben präsent, z.B. auf „Tricko“, 2014.
Seine Partnerin von damals, die Cellistin Lucy Railton, wirkt auch jetzt wieder mit, ebenso Tom Challenger, ts.
Er ist mit Downes über etliche Jahre hinweg durch englische Dorfkirchen getourt (ein Album kündet davon: „Vyamanikal“, 2015).
Wer aus den weiteren Gästen auf den Charakter der Musik schließt, geht völlig fehl.
Kit Downes hat die beiden ausgesprochenen Lautgeber Stian Westerhus, g, aus Norwegen und Sebastian Rochford, dr, sehr gut in die - man möchte fast sagen - „sakrale“ Ökonomie des Projektes eingepflegt.
Beide sind kaum wiederzuerkennen, beide wirken auch nicht überall mit. Westerhus sorgt für die klanglich stärksten Momente, beispielsweise in „Bodes“, wo er mit gestrichenen E-Gitarren-Sounds einen riesigen Vorhang hinter Downes´ Orgel aufzieht, auch die Specht-artigen tremoli in der Coda stammen von ihm.
Der sonst hyperaktive Rochford ist mit vergleichsweise banalen Handreichungen zu vernehmen, etwa mit toms- und cymbal-Werk im letzten Stück.
Das locker geführte unisono von Piano und Tenorsaxophon im Auftaktstück „Sculptor“ erinnert an den zweistimmigen Parcours von John Taylor (1942-2015) und Hayden Chisholm, as, gleichfalls in einer englischen Dorfkirche, 2008 in Plush/Dorset; festgehalten auf dem eindrucksvollen Album „Live at Plush“.
Die Verwandtschaft ist kein Zufall. Downes bezeichnet Taylor als seinen Mentor, das Vorgänger-Orgel-Album „Obsidian“ ist ihm gewidmet und - in Plush hat er auch schon gespielt, gleichfalls mit Hayden Chisholm, in einem Tribut an John Taylor.
„Sculptor“, nach der Hälfte der sechs Minuten nehmen Downes & Challenger das Tempo raus, eine flächige Orgel gesellt sich dazu, übernimmt peu a peu die Führung, das Piano bleibt fast bis zum Schluss dabei.
Hier sind offenkundig zwei Sessions montiert; der Schnitt aber, den es gegeben haben muss, er bleibt unhörbar.
Die sanfte „Addition“ von Piano und Orgel, die Kit Downes unter den gegebenen Bedingungen der Kirchenräume nie parallel spielen kann, grundiert durchgehend den vorwiegend kontemplativen Charakter der Musik, darin nicht unverwandt den Werken von Christian Wallumrød in einer Osloer Kirche. Gleichwohl, allein schon durch Tom Challenger gewinnt dieses Album an Jazz-Nähe.
In „Pinwheel“ pausiert er, das Cello von Lucy Railton tritt an seine Stelle.
Eine weitere Musikerin ist beteiligt, wenn auch nicht in persona: Ruth Goller aus Südtirol, die Ehefrau von Kit Downes.
„M7“ stammt aus ihrem Zyklus (M1-M10) für drei Frauenstimmen und eine verstimmte Baßgitarre. „M7“ erklingt hier für Kirchenorgel solo, ein ephemärer Song, den man sich gut auch von Robert Wyatt vorstellen kann.
Er bestätigt die Vermutung, die man bei Goller´s verunglücktem Auftritt beim Klaeng Festival 2018 gewinnen konnte, nämlich dass eine beherztere Interpretation die verborgenen Qualitäten ihrer Stücke freilegen kann.
Das Thema, man kann es sich als eine Art Sprechgesang vorstellen, ist denkbar kurz, es besteht aus neun Tönen. Kit Downes trägt es zweimal vor, sequenziert es zwei weitere Male - der große Rest ist Improvisation, mit großen Flächen unten und hohen Pfeifen ganz oben.
Ein Kirchenorgel-Popsong!
erstellt: 08.11.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten