TIGRAN HAMASYAN Mockroot ********
01. To Love (Hamasyan), 02. Song for Melan and Raffik, 03. Kars 1 (trad), 04. Double-Faced (Hamasyan), 05. The Roads that bring me closer to you, 06. Lilac, 07. Entertain me, 08. The Apple Orchard in Saghmosavanq, 09. Kars 2 (trad), 10. To Negate (Hamasyan), 11. The Grid, 12. Out of the Grid
Tigran Hamsyan - p, voc, keyb, Sam Minaie - bg, Arthur Hnatek - dr, electronics, Gayanée Movsisyan - voc (5)
track 2 Hamasyan plus:
Areni Agbabian - voc, Ben Wendel - sax, Chris Tordini - bg, Nate Wood - dr
rec. 05/2014
Warner/Nonesuch 536521, LC 00286
Als die Brecker Brothers 1978 ihrem neuen Album den verwegen scheinenden Titel „Heavy Metal Bebop“ gaben, war das eine schöne Metapher. Und vom Inhalt her durchaus gedeckt.
Es ging zur Sache.
In den Jahren seitdem ist der headroom nach oben immer schmaler geworden.
Wo wir jetzt stehen, wie gering der Abstand zum absoluten lift off ist, lässt sich am neuen Album von Tigran Hamasyan ablesen.
Der ist, obwohl er seine pianistischen Kabinettstückchen schon seit mehr als 10 Jahren vorführt, erst 28. Er lebt, nach Jahren in Los Angeles und Paris, jetzt wieder in seiner Heimat Armenien, in Jerewan.
Gemessen an zwei, drei tracks von „Mockroot“ könnte man „Heavy Metal Bebop“ auch in in einer liberalen Christmette auflegen.
„Mockroot“ ist ein Anschlag auf den gesunden Jazzverstand.
Und Hamasyan betreibt die Eskalation peu a peu.
Er beginnt mit einer „privat“ wirkenden, kleinen romantischen Klavierübung mit hohem Scatgesang, inspiriert von einem Lyriker des 19. Jahrhunderts aus West-Armenien.
Track 2, „Song for Melan and Rafik“ führt das romantische parlando fort, nun mit einer Sängerin, man wähnt sich bei Azizah Mustafa Zadeh, eingelullt von perlenden Klavier-Ostinati.
Dann setzt die Rhythmusgruppe ein (am Schlagzeug Nate Wood, von den Jazzrock-Erneuerern Kneebody), Areni Agbabian´s Stimme fliegt mit dem Piano im Ostinato-Himmel, am Boden werden die ersten Ruckler laut, Noten werden gedehnt und gerückt. Und zwei Minuten vor Schluss prasseln die Akzente wie Handkantenschläge, das Stück hat lediglich drei Akkorde und steht im 42/16 Takt.
Das kann kein Rezensent hören, aber es kann ein jeder die ausführlichen Erläuterungen des Komponisten auf der Webseite des Labels nachlesen.
Abgesehen von einem - impressionsistischen - Piano-Solo („Lilac“) ist dies das einzige für Quintett arrangierte Stück, die meisten sind für sein Trio gearbeitet (dem Sam Minaie schon seit 8 Jahren angehört).
„Für mich ist es aber eher ein elektro-akustisches armenisches Rock-Trio als ein normales Jazz-Trio“, schreibt Hamasyan.
Und er hat recht.
Die Probe auf´s Exempel ist „Entertain me“ (!), ein Klanggeschoss von knapp dreieinhalb Minuten, eine Abfolge von vamps, die alles, was bis dato unter Heavy Metal Jazz verhandelt wurde, versenken.
Headbangers are getting a hard time.
Die Melodie ist in 35/16 gruppiert und läuft sieben mal, darüber offbeats ohne Ende.
„It´s very, very rocky“ - der Komponist/Pianist hat wieder recht.
Jetzt folgt- ja, etwas Balladeskes, „The Apple Orchard in Saghmosavanq“, wie fast alles auf dieser CD mit einem Bezug zur armenischen Tradition. Das Stück startet aber nur neo-romantisch, es schaukelt sich auf wie ein guter Popsong zu einem wall of sound, um dann erwartungsgemäss als Piano Nachspiel zu verebben.
Mit „To Negate“ greift Hamasyan noch einmal die Stimmung des Eröffnungstracks auf, nur unterlegt er diesmal einen 13/8 Rhythmus (der an machen Stellen a la Bruford akzentuiert wird).
In den dann folgenden sechs Minuten gibt´s kein Halten mehr, „The Grid“ ist vollständig durchkomponiert und klingt wie Chick Coreas Return To Forever im Quadrat! Ein Parcours voller vamps, formal zwar in 4/4, aber gruppiert in einer abartigen Folge von 16teln.
„Die Idee ist, diesem Rhythmus immer weiter in die Tiefe zu folgen.“
Der Drummer, Arthur Hnatek, ist hinreissend, Hamasyan segelt wie ein Super-Corea oben drüber.
Er perlt mit einer kleinen Pianofigur hinein in „Out of the Grid“, und das Ensemble antwortet sogleich mit einem schweren Synthie-Vamp.
„Ich könnte mir vorstellen: das zu hören kann ganz schön frustrierend sein.“
Yes, Sir, das ist Polymetrik bis der Notarzt kommt, das ist Jazzrock wie ein Anschlag. Nicht wirklich neu, aber ungehört in dieser Dichte. Hier bringt einer aus Vorderasien die Verhältnisse zum Tanzen.
Nach 4:40 der letzte Piano-Handkantenschlag - und Ruhe bis 5:29: ein hidden track: „Lilac“, nun als Trio-Walzer mit lieblichem Frauengesang.
Ein Song wie aus einem französischen Liebesdrama.
Wie passt das zusammen? Ist das noch Jazz?
His Wyntoness werden die Haare zu Berge stehen. Nicholas Payton ebenso.
Und vielen anderen auch.
Der Rezensent will sich gerne um eine Antwort drücken, schon weil sie ohne normativen Rahmen gar nicht denkbar ist. (Jazz ist für ihn, wenn´s drauf ankommt, und hier kommt es drauf an, das, was die Macher als „Jazz“ intendieren. Und das tut Tigran Hamasyan.)
Nicht zuletzt auch, weil ihn die Kraft dieser Musik in den Bann gezogen hat, bis zur Hilflosigkeit, weil die vielen vamps Suchtpotential haben.
Er möchte lieber eine Argumentationsfigur von Sandeep Bhagwati aufgreifen. Der indische, in Europa aufgewachsenen Komponist hat im Jahr 2000 am Beispiel der Klassischen Musik, im Hinblick auf eine japanische Pianistin, die Mozart übt, eine reizende Überlegung angestellt:
„Muss sie denn von einem Klavierprofessor, der möglichst auch noch Salzburger ist, darin unterrichtet werden, wie man Mozart ´richtig´ spielt?
Wäre es nicht spannender (und letztlich wirkliche Kultur statt bloßer Repräsentationskultur), wenn sie aufgrund ihrer ganz spezifischen multikulturellen Prägungen eine eigene, möglicherweise ganz eigentümliche Interpretation fände. Wenn sie Mozart ´schlecht´, sich selbst aber gut interpretierte?“
Yeah, that´s Jazz!
erstellt: 10.02.15
©Michael Rüsenberg, 2015. Alle Rechte vorbehalten