MILES DAVIS Bitches Brew 40th Anniversary
Columbia Legacy 88697 75520

Bitches Brew LP **********

LP 1: Pharaoh's Dance (Zawinul), Bitches Brew (Miles Davis)
LP 2: Spanish Key, John McLaughlin, Mies runs the Voodoo down, Sanctuary (Davis, Shorter)

Miles Davis - tp, Wayne Shorter - ss, Lenny White - dr, Bennie Maupin - bcl, Chick Corea - ep, Jim Riley (Jumma Santos) - perc, Harvey Brooks - bg, Don Alias - dr, perc, Dave Holland - b, John McLauglin - g, Joe Zawinul - ep, Larry Young - ep

rec. 19.08. - 20.08.1969

Bitches Brew (40th Anniversary) **********

CD 1: 01. Pharaoh's Dance (Zawinul), 02. Bitches Brew (Miles Davis), 03. Spanish Key, 04. John McLaughlin
CD 2: 01. Miles runs the Voodoo down, 02. anctuary (Davis, Shorter), 03. Spanish Key - alternate take, 04.John McLaughlin - alternate take, 05. Miles runs the Voodoo down - single edit, 06. Spanish Key - single edit, 07. Great Expectations - single edit, 08. Little Blue Frog - single edit

Miles Davis - tp, Wayne Shorter - ss, Steve Grossman- ss (CD 2, tr 7,8), Lenny White, Jack DeJohnette - dr, Don Alias - perc, dr (CD 2, tr 1, 5), Billy Cobham - dr (CD 2, tr 7, 8), Bennie Maupin - bcl, Chick Corea, Joe Zawinul - ep, Larry Young - ep, org, celeste, Herbie Hancock - ep (CD 2, tr 7, 8), John McLauglin - g, Jim Riley (Jumma Santos), Airto Moreira - perc, Harvey Brooks - bg, Dave Holland - b, bg, Ron Carter - b (CD 2, tr 7), Khalil Balakrishna - sitar (CD 2, tr 7, 8), Bihari Sharma - tambura (CD 2, tr 7, 8)

rec. 19.08. - 20.08.1969
19.11.1969 (CD 2, tr 7), 28.11.1969 (CD 2, tr 8)

Tanglewood Live 1970 **********

01. Bill Graham Intro, 02. Directions (Zawinul), 03. Bitches Brew (Miles Davis), 04. The Mask, 05. It´s about that Time, 06. Sanctuary (Wayne Shorter), 07. Spanish Key/The Theme (Davis), 08. Miles runs the Voodoo down, 09. Bill Graham Outro



Miles Davis - tp, Gary Bartz - ss, as, Chick Corea - ep, Keith Jarrett - org, Dave Holland - b, Jack DeJohnette - dr, Airto Moreira - perc

rec. 18.08.1970

Copenhagen Live 1969 DVD *********

01. Directions (Zawinul), 02. Miles runs the Voodoo down (Miles Davis), 03. Bitches Brew, 04. Agitation, 05. I fall in Love too easily (Cahn, Styne), 06. Sanctuary (Wayne Shorter), 07. It´s a bout that Time/The Theme (Davis)

Miles Davis - tp, Wayne Shorter - ss, ts, Chick Corea - ep, Dave Holland - b, Jack DeJohnette - dr

rec. 04.11.1969

Wer dieses Paket im LP-Format öffnet, mag sich unwillkürlich mit Franz Beckenbauer fragen: „Ja is´ denn scho´ Weihnachten?“
Wie viele aufgebrezelte Weihnachtsgeschenke enthält auch diese deLuxe-Edition Überraschendes, Erfreuliches, aber auch Überflüssiges, ja Entbehrliches. Z.B. eine Tüte mit Printmaterialien, aus der ein mäßiges Poster rutscht, der Nachdruck einer Geschichte aus dem „Rolling Stone“ vom November 1969, ein Kontaktbogen mit s/w Fotos, und zwei Faksimiles belegen Informationen, die auch im aufwendigen booklet (gleichfalls im LP-Format) vorhanden sind.
Demnach war „Bitches Brew“ ausweislich einer CBS-Hausmitteilung vom 03.11.69 als Einzel-LP geplant, Titel „Listen to this“, am fraglichen Tag wird das Titelstück handschriftlich in „Pharaoh´s Dace“ umgeändert. Und unter dem 14.11.69 hinterlässt Produzent Teo Macero eine Mitteilung, Miles Davis habe gerade angerufen, der Titel des Albums sei „Bitches Brew“, man solle sich daran halten.
Hätte die Jazzgeschichte einen anderen Verlauf genommen, wäre im April 1970 nicht „Bitches Brew“, sondern ein Doppelalbum mit dem 08/15-Titel „Listen here“ erschienen?
Eine rhetorische Frage! Bei ansonsten gleichem Inhalt hätten allenfalls die Metaphernschmiede weniger Glut im Ofen gehabt: diese vier LP-Seiten, jetzt ausgewalzt auf zwei CDs, hätten unter jedem Titel Jazzgeschichte geschrieben - nicht als das erste Werk des Jazzrock (Miles selbst hat sich schon zwei, drei Jahre früher daran versucht), sondern als der frühe Kulminationspunkt dieser neuen Gattung mit Ausstrahlung auf zahlreiche Künstler, ob 1969 daran beteiligt oder nicht, und Wirkung bis zum heutigen Tage.
Nun gut, Sony/CBS hat zwei mögliche Jubliläumszeitpunkte verpasst: entweder August 2009 (40 Jahre nach den Studioterminen) oder April 2010 (40 Jahre nach Markteintritt), aber im Gegensatz zu der 4-CD-Edition „The Complete Bitches Brew Sessions“ von 1998, die mit Aufnahmen von August 1969 bis Februar 1970 ein viel zu großes Netz auswarf, stellen die Anniversary-Produzenten Michael Cuscuna und Richard Seidel den Focus etwas enger. Sie beschränken sich auf die Studiositzungen von August und November 1969 sowie zwei Konzert-Mitschnitte aus 1969/70, in denen zumeist „Bitches Brew“-Material interpretiert wird.
Und sie präsentieren zwei Archiv-Funde, die 1998 noch nicht bekannt waren: Alternativ-Versionen zu „Spanish Key“ sowie „John McLaughlin“. Letzteres mag man als Zweitinterpretation durchgehen lassen (wenn man gaanz viel Zeit hat), hinsichtlich „Spanish Key“ bestätigt sich eine Erfahrung aus früheren Archivfunden - die Erstveröffentlichungen, die immerhin auf Entscheidungen von Miles Davis und Teco Macero zu Lebzeiten basieren, sie waren zweifelsfrei die besten. In keinem einzigen Falle haben die nachgereichten Fassungen den Eindruck durch die „Originale“ ins Wanken bringen können.
Sammelleidenschaften werden hier mit Informationsmüll verfettet, und nämliches gilt für den ganzen Rest von CD 2. Man nimmt zur Kenntnis, dass damals auch Single-Versionen produziert worden sind; man hört sie bestenfalls einmal - um festzustellen, wo und wann die Blende kommt (und eben auch festellen muß, dass die Produzenten damals darauf die allerwenigste Sorgfalt verwandt haben - im Vergleich zu der virtuosen Editions-Arbeit an den Studio-Aufnahmen. Der Covertext heute weist zu recht darauf hin, dass es von „Bitches Brew“ keine „Original Master Bänder“ gibt - ja gar nicht geben kann: Musiker, die 1969 frustriert das Studio verließen, waren später von der Schneidearbeit des Teo Macero völlig verblüfft. Das Durcheinander der Aufnahmesitzungen hatte er zu großer Kunst destilliert.)
In der Hauptsache werden alle, die seinerzeit durch „Bitches Brew“ für den Jazz initialisiert wurden, ihr Entzücken wieder finden. Wie oft ist diese Musik kopiert worden, noch heute weisen viele E-Piano-Muster in diese Richtung - aber niemand hat je wieder dieses interplay von Joe Zawinul und Chick Corea erreicht, Zawinul mit seinen Blues-Phrasen, Corea mit seinen so geschickt gesetzten Einwürfen. Erweitert man den Fokus auf das gesamte Ensemble, so hat Zawinuls Postulat „we always solo, we never solo“, das er für sein eigenes Ensemble reklamierte, hier seinen Ursprung.
Aber, der Rang von „Bitches Brew“ für die Jazzhistorie ist unbestritten, darüber kann man sich andernorts kluglesen (am besten aber klughören), JNE geht es um Neu-Veröffentlichungen bzw. bis dato nicht Veröffentlichtes.
Und da bietet diese Jubliläumsedition zwei echte Juwelen; zunächst, im engen zeitlichen Rahmen zu den „Bitches Brew“-Sessions das Video eines Konzertes in Kopenhagen, wenige Monate nach dem Studiotermin, in der üblichen kleinen Bühnenbesetzung als Quintett.
Die Bildqualität ist mäßig, die liner notes weisen darauf hin, dass sie sich nicht habe verbessern lassen. Das Konzert beginnt mit „Directions“ als uptempo swing, hier herrscht wieder klar die Vor-“Bitches Brew“-Ordnung, die Rock-Beats kommen später. Unter dem Solo von Chick Corea freilich wird das Metrum aufgelöst - zum ersten Mal in diesem Konzert, bis schließlich im letzten Stück große Teile der Soli von CC aber auch Wayne Shorter frei-metrisch ablaufen. Hier vollzieht sich in Reinkultur das, was Chick Corea Michele Mercer, der Biographin von Wayne Shorter (für ihren Band „Footprints“, 2004), mitteilt: wenn Miles - nach seinem Solo oder nach dem Thema - die Bühne verließ, fühlten die Musiker sich wie in einer Sauerstoffzufuhr und nutzten die Zeit in ihren Soli, um die Musik über die Grenze in den FreeJazz auszuweiten. Miles tolerierte diese Aufweichung/Ausweitung der Formen, wie Dave Holland im selben Band berichtet - doch wenn er wieder ans Mikrophon ging, mußte hinter ihm wieder alles klar & eindeutig sein.
(Auch das geschieht hier nicht zum ersten Mal: mit anderen Formen, nämlich irrwitzigen Tempowechseln, hatten Jahre zuvor schon Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams die entsprechenden Zeitfenster bei „Live at the Plugged Nickel“ genutzt.)
Wayne Shorter ist in Kopenhagen 1969 gelegentlich indisponiert, in „Miles runs the Voodoo down“ klingt er auf dem Tenor mitunter wie eine heisere Ente, das gestrichene Baß-Solo von Dave Holland in diesem Stück ist gleichfalls suboptimal. Der beste Mann in diesem Set ist Chick Corea, ein Schmalhans im Hippiehemd am Fender Rhodes Piano, dem - noch - keine Melodieperlen a la „Light as a Feather“ von der Hand gehen. Das ist die modale Kürzel-Melodik seines Albums „now he sings now he sobs“ aus dem Vorjahr, hier kommt schon der kühle Avantgardist des „Circle“-Quartetts zum Vorschein.
Was das Betrachten der Bilder, neben ihrer technischen Qualität, eintrübt, ist die absolute Freudlosigkeit der Musiker selbst: kein Lächeln, keine Freundlichkeit, als seien die fünf in ihren je eigenen Käfigen gefangen. Der einzige, der ein wenig aufschaut, ist der - exzellente - Jack DeJohnette. „Copenhagen Live 1969“ nährt die These, dass man manche Jazz-Aufzeichnungen besser rein akustisch verfolgt, das Bild liefert keinerlei Erkenntnisgewinn.
Vielleicht deshalb fällt die CD „Tanglewood Live 1970“ noch einmal deutlich besser aus: dieses Konzert im August 1970 ist ein Traum, einer der besten Live-Mitschnitte von Miles Davis überhaupt, auf jeden Fall viel besser als die gleiche Band zwei Wochen später auf der Isle of Wight.
Miles ist in Topform, das interplay von Chick Corea und Keith Jarrett ist ohne Parallele, ein so dramatisches Gewusel hat es in der ganzen Jazzgeschichte selten gegeben. Und wenn Keith Jarrett sich noch einmal über die Qualität seiner damaligen Orgel beklagt, dann möge man ihm seinen Part in „Bitches Brew“ wie einen nassen Lappen um die Ohren hauen - selten hat jemand mit so wenig so viel erreicht!
Die größte Überraschung aber ist die Rolle von Gary Bartz. Gegenüber der Isle of Wight erscheint er wie ausgewechselt; das Altsaxophon spielt er mit einem wunderbar „arabisch“-näselnden Ton, er entwickelt shouter-Qualitäten auf diesem Instrument, die man als direkte Vorläufer eines Kenny Garrett bewerten kann. Und dann die Rhythmusgruppe! In „The Mask“ zerreiben sie das Metrum, um Dave Holland mit einem walking bass in halbem Tempo aus diesem Feuer marschieren zu lassen.
Das Konzert ergießt sich wie ein einziger Energiestrom in knapp 40 Minuten. Dann Beifall - und die Musiker sind erkennbar erschöpft. Die Zugabe „Miles runs the Voodoo down“, ohnehin nicht der stärkste vamp aus dieser Zeit, muß mühsam zusammengesammelt werden, Miles kämpft mit der Intonation wie selten zuvor oder danach.
So what! Nach einer Sternstunde ist alles erlaubt.

erstellt: 29.10.10

©Michael Rüsenberg, 2010. Alle Rechte vorbehalten