KEITH JARRETT Rio ******

CD 1:
Rio, Parts I - VI (Jarrett)
CD 2: Rio, Parts VII-XV

Keith Jarrett - p

rec 09.04.2011
ECM 2198/99 2776645; LC 02516

Diese Doppel-CD könnte mehrere Seminare beschäftigen. Der Rezeptionsästhetik liefert sie einen klaren Fall von Rezeptionssteuerung. Um nichts anderes handelt es sich, wenn ein Künstler, vom dem fast ein Dutzend ähnlicher Werke vorliegt, darunter viel gefeierte, über sein neuestes sagt, es sei „eines der besten“. Und nicht nur das, es sei obendrein „jazzig, ernsthaft, süß, spielerisch, warm, ökonomisch, energetisch, passioniert und der brasilianischen Kultur auf einzigartige Weise verbunden.“

Wer wollte da widersprechen? Die ersten Rezensenten tun´s nicht (und der Guardian flüstert, Keith Jarrett habe seinen Produzenten Eicher aus Rio angerufen, „noch bevor der Applaus verebbt war“, dies sei sein „bestes Konzert in Jahren“ gewesen).
Die Improvisationsästhetik könnte sich angesprochen fühlen durch diese Sätze: „Alles, was ich in Rio gespielt habe, war improvisiert. So hätte ich an diesem Ort kein zweites Mal spielen können, weder in einem anderen Land, noch in einer anderen Halle, mit einem anderen Publikum, oder an einem anderen Abend.“
Wer sich durch solcherlei Wortnebel nicht einschüchtern lässt, wird einwenden, dass Jarrett hier nichts als eine Binsenweisheit wiedergibt. Er bestätigt die Grundannahme jeglicher improvisierter Musik, dass sie sich unter keinen Umständen wiederholen lässt.
Womit Jarrett in Rio aber bricht, ist eine anderes Paradigma des Improvisierens. Es wird selten ausgesprochen, es ist die Entsprechung zum Kleist´schen Satz vom "Verfertigen des Gedankens beim Sprechen". Ein Prinzip, das Keith Jarrett in seinen zahlreichen Solo-Aufnahmen zu hoher Kunst entwickelt hat.
Improvisieren heißt demnach immer auch: nach Formen, nach Lösungen suchen - und den Zuhörer an diesem Prozeß beteiligen. Denn das ist ja das eigentlich Spannende, ja der Kern der Improvisation, ihre Legitimation: dass der Künstler zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht schlauer ist, nicht weiter „vorausschauen“ kann als der unbeteiligte Zuhörer. (Dies wird bestätigt durch jüngste Erkenntnisse, wonach der Improvisator eben nicht im Kopf „vorhört“, was er kurze Zeit später manuell ausführt.)
Davon völlig unberührt bleibt die Tatsache, dass das, was er spontan „aus dem Ärmel schüttelt“, vorher auch dahinein gekommen sein muß, sprich: Erfahrung, anderswo Gehörtes, Gelerntes. Ein Vortrag, der daraus besteht, dass jemand „spontan“ aus Bausteinen ein Stück so fertigt, dass lediglich nicht-komponiert ist, gilt nicht als Improvisation. Hier könnte Volker Kriegels Diktum greifen, wo nach die Freiheit im Dixieland darin besteht, wie in einem Malbuch die vorgezeichneten Flächen mit Farbe zu füllen.
cover-jarrett-rioKeith Jarrett, Gott bewahre, spielt keinen Dixieland, aber er liefert mehr als früher Gattungs-Stücke. Die Entwicklung, die sich auf CD 1 ankündigt, kulminiert in Part XI, der nichts weiter ist als ein Boogie-Blues, 3 Minuten und 20 Sekunden, 12 Takte fix und fertig, mit Anfang und Schlußakkord. Braucht´s dafür einen Keith Jarrett?
Vorher, alles auf CD 2, liefert er zwei Balladen mit gleichfalls hohem Fertigkeitsgrad, die wirken wie Standards, zu denen einem partout die Titel nicht einfallen wollen; ein Gospelstück mit perfektem Schlußakkord sowie einen Fünfminüter mit schnellen Cluster-Läufen, ein „abstrakter Bebop“, wie es scheinen will; den Kritiker der Rheinischen Post erinnert er an Etüden von Bartok, Berg oder Ligeti. (Warum freilich Jarrett ausgerechnet in „Rio“ der Jazz so „fremd“ sein soll „wie nie“, bleibt sein Geheimnis.)
Früher, in seinen langen Piano-Predigten, ließ Jarrett das eine Idiom aus dem anderen fließen, die Verbindungen, die Übergänge, ja auch die Andeutungen machten den Charakter seines Vortrages aus, das eigentlich Spannende. Jetzt wird man Zeuge, wie einer mit großer Technik die Erwartungen erfüllt, die er jeweils mit den ersten Takten geweckt hat.
CD 1 muss man von diesen Erwägungen weitgehend ausnehmen. Auch hier sind die Stilwechsel von Stück zu Stück deutlich, aber es finden auch entsprechende Entwicklungen innerhalb der Abschnitte statt.
Das Publikum im Theatro Municipal in Rio, das mit frenetischem Beifall reagiert, heftig, aber kurz, gibt sich bei den ersten beiden tracks vergleichsweise zurückhaltend. Kein Wunder, Part I besticht durch enggeführte staccato-Linien, recht dissonant, Part II ist eine gefühlige Ballade ohne klare melodische Kontur.
Part III startet mit einem 3/4 ostinato in der linken Hand und enthält die ersten Gospel-Momente des Abends. Der Beifall steigt sprunghaft an. Part V verbindet über typisch schwerem Jarrett`schem ostinato Gospel- und Bebop-Melodik, und steht trotz kurzer Dauer (6:25) eher noch in der Tradition der früher ausschweifenden Stücke.
Part VI dann ist, zumindest für unseren Geschmack, der Höhepunkt des Abends: ein düsterer Rocker, in dem Jarrett quasi von einem Pianisten etwas ausborgt, der viel von ihm geliehen hat, Brad Mehldau. Das Stück lässt sich gut auch hören als bluesige Paraphrase auf Radiohead.
Der Künstler mag das alles für einen großen Wurf halten (ob er´s wirklich so meint, können wir nie wissen), wir Hörer müssen seinem Urteil nicht folgen. Wir dürfen gut & gerne anderes von Keith Jarrett für gelungener, für besser halten.

erstellt: 10.11.11
©Michael Rüsenberg, 2011. Alle Rechte vorbehalten