KEITH JARRETT Paris/London Testament ********

CD 1
Paris, November 26, 2008 Part I-VIII (Jarrett)

CD 2 London, December 1, 2008 Part I-VI

CD 3 London, December 1, 2008 Part III-XII

Keith Jarrett - p

rec. 26.11.2008 (Paris), 01.12.2008 (London)
ECM 2130-32 2709583; LC-Nr 02516

Der Mann, der sich auf der Bühne herrisch gibt - hier will ihm schier das Herz überlaufen. Ein Kurz-Essay, in dem Keith Jarrett den Wandel seiner Solo-Konzerte beschreibt: von den langen Piano-Predigten a la „Köln Konzert“ zu der ab 2002 geläufigen Praxis kürzerer Stücke, in denen er eine Idee so lange improvisatorisch verfolgt, wie sie ihm tragfähig erscheint und dann abbricht und ein neues Stück beginnt - diese informativen Zeilen brezelt er durch private Einlassungen auf zu einem Gesinnungsaufsatz.
Der Aussage über den Ursprung seiner Solo-Konzerte, Anfang der 70er Jahre in Heidelberg, folgt unvermittelt der Satz: „Dann heiratete ich meine meine erste Ehefrau, Margot.“
 Dem Absatz über einen erfolglosen Versuch, seine Solo-Konzerte „neu zu erfinden“ geht die Familiennachricht vorauf, nach der Scheidung von Margot habe er 30 Jahre mit seiner zweiten Frau Rose-Anne zusammengelebt.
Schließlich verbindet er privaten Anlaß und öffentliche Aktivität: „Dann verließ mich meine Frau (zum dritten Mal in vier Jahren).“ Um „zu überleben“ setzt er ein Konzert in der Carnegie Hall an, Ende Januar 2009, doch viel zu spät, um den Schmerz rasch zu betäuben. Also gelingt es seinem Agenten, noch vorher zwei Auftritte in Europa zu arrangieren - dieses Tripel-Album gibt Zeugnis davon.
Ein Schuft, der nicht Genugtuung (und Mitleid) darüber empfände, dass also auch der Piano-Olymp nicht vor einer uralten Menschheitserfahrung schützt. Aber Jarrett will mehr. Er will den Schmerzensmann geben: aus einem Londoner Taxi heraus registriert seine verletzte Seele rundherum Weihnachtsfreude und Paare, Paare, Paare. Später in der Garderobe zieht er die Vorhänge zu, versucht „normal zu atmen“ und drängt sich schließlich noch der Anteilnahme der Büffet-Frau auf: auch sie hat jüngst ihren Liebhaber verloren!
Wollen wir das wirklich alles wissen? Hätte Jarrett, wenn er denn Anteilnahme erheischen und/oder die Rezeption dieses Werkes in eine bestimmte Richtung lenken will, hätte er nicht an dieser Stelle bescheiden ein Zitat seines verstorbenen Biographen Ian Carr einbringen können, wonach er immer dann besonders gut ist, wenn die Umstände als besonders widrig erscheinen?
Auf weite Teile dieser Mitschnitte trifft Carr´s Hypothese nämlich zu, und man mag streiten (wie der Kritiker des Guardian), ob das strukturell vergleichbare Konzert in der Carnegie Hall 2005 höher zu bewerten sei.
Jedenfalls nimmt wieder einmal dieser Piano-Ton für sich ein, gleich vom ersten Moment des Paris-Konzertes, einer noch suchenden, quasi „impressionistischen“ Einleitung, die erst nach gut 7 Minuten eine Ahnung von Groove annimmt und nach gut 13 Minuten pointillistisch endet, quasi in Form einer Suite.
Es folgt ein wirklich ausgeführter, herrlich dunkler Groove in Part II, perlende, melodische Cluster in IV und eine Monk´sche Linienführung in VI - tosender Beifall in der Salle Pleyel; ein jeder weiß, dass ein solcher Tonfall, eine solche Rhythmik, eine solche, bei aller Phantasie eben nicht ziellose Melodik in der Jazzgeschichte ohne Parallele sind.
Der Zuhörer profitiert unbedingt davon, dass verschiedene Ideen nicht mehr in einem langen Geflecht verknüpft, sondern einem gewissen stilistischen „Gehorsam“ folgen und sich nicht mehr mit anderen „vermischen“. Das stilistische Spektrum wird größer, die einzelnen Abschnitte werden präziser beschreibbar - und dies mitunter so klar, dass weniger totale Improvisation als Motor dahinter vermutet, sondern das Ausführen einer Kompostion.
In Paris, an den Jubelsturm über Part VI, schließt Jarrett ein melodisches Motiv durchgängig im 3/4-Takt an, das wie ein Song anmutet.
In London, wenige Tage später, lässt sich nämliches beobachten: noch ein 3/4-Takt, jetzt im Gospel-Gewand (Part III) sowie mehrere Balladen (Part VI, VIII, XI und XII). Mindestens zwei Stücke atmen die Nervosität des Bebop (II und IX), VII dann in schweren Blues-Rock-Wogen. Vielleicht hat Jarrett gerade diese 9 Minuten im Ohr, wenn den Abend in der Royal Festival Hall so charakterisiert: „never-to-be-repeated, pulsing rock band of a concert“.
Man darf gespannt sein, welche Formen das nächste Neu-Erfinden der Jarrett´schen Solo-Konzert hervorbringt. In der Carnegie Hall hatte er neben reinen Improvisationen auch tunes, bekannte Stücke, interpretiert. Im Grunde ist er auf diesem Weg fortgeschritten, seine spontane Erfindungsgabe auf der Bühne idiomatisch so schärfen, dass sie komponierten Formen zum Verwechseln ähnelt, für die wir alle - vergeblich - nach Titeln suchen.
Vielleicht ist Keith Jarrett der Formenvorrat seiner Ideen besser präsent als je zuvor. Unter ähnlichen Voraussetzungen hat er schon einmal einen Wandel eingeleitet („Radiance“, 2002), vielleicht steht demnächst ein weiterer an? Und eine neue Ehefrau?

erstellt: 21.12.09

©Michael Rüsenberg, 2009, Alle Rechte vorbehalten