KEITH JARRETT The Carnegie Hall Concert ********
CD 1: 01. - 05. The Carnegie Hall Concert, Parts I - V (Jarrett)
CD 2: 01. - 05. The Carnegie Hall Concert, Parts VI - X (Jarrett), 06. The Good America, 07. Paint my Heart red, 08. My Song, 09. True Blues, 10. Time on my Hands (Youmans, Adamson, Gordon-Redwood)
Keith Jarrett - p
rec. 26.09.2005
ECM 1989 9856224; LC-Nr 02516
Die Keith-can-do-no-wrong Fraktion hat sich hieran schon abgearbeitet. Die Nauras und Steinfelds, die einen neuen Keith Jarrett gerne zum Anlass nehmen, ihre Verehrung des Meisters mit grosser "literarischer" Geste auszumalen oder simply die Fassung verlieren. ("Keith Jarrett versetzt mich in außerirdische Gefühle. Gott ist nicht weit.", Michael Naura in Die Zeit, Nr. 40/06)
In der Tat, sie können einen schon anstecken damit, denn die Sache selbst, dieser Ton, dieser Sound auf dem Flügel - die haben etwas Unvergleichliches. Die Gewissheit, einem Grossen beizuwohnen, stellt sich rasch ein.
Der frenetische Beifall der Zuhörer tut ein übrigens; er ist mächtig zu Beginn und steigert sich zwischen den 5 (!) Zugaben ins Orkanische, ja Orgiastische. "Die sind ja wohl raderdoll!", sagt dazu der gemeine Kölner; Neid schwingt mit, nicht dabei gewesen zu sein, als Keith Jarrett am 26. September 2005 in der Carnegie Hall zu New York City sich zeigt, zu seinem ersten Solo-Konzert in den USA nach 10 Jahren.
Es bedurfte, wie seine Discographie ausweist, auch gar nicht seines Heimatlandes, um grosse Leistungen zu verbringen, die Mehrzahl hat sich ausserhalb ereignet. Insbesondere in Japan.
Das Carnegie Konzert steht hier in enger Verbindung zur Vorgänger CD "Radiance", entstanden 2002 in Tokio und Osaka, als es gleichfalls die Abkehr von den langen Episteln hin zu kürzeren Stücken dokumentiert. "Wenn ich zu spielen beginne und eineinhalb Minuten später merke, das Stück ist vorüber, dann stoppe ich", erklärt Jarrett. "Es ist die Freiheit aufzuhören, wenn Aufhören als die richtige Lösung erscheint."
Kurioserweise trifft diese Aussage von Jarrett, jetzt von ECM veröffentlicht, viel eher auf "Radiance" denn auf "Carnegie" zu. Dennoch bleibt sie im Prinzip richtig.
Der kürzeste track hier ist Teil 2 (3:03), ein dunkler Gospel-Groove. Er hat einen leichtfüßigen Verwandten in Teil 7, der noch deutlicher die "Vorlage" durchscheinen lässt (so hören wir es wenigstens): Carnegie Part VII ist eine kaum noch verhüllte Paraphrase auf "Let it be" von den Beatles ("Radiance 8" drei Jahre zuvor deutete bereits Ähnliches an). Auf einem angeblichen Meilenstein-Album wirkt das zumindest deplaziert.
Wenn man davon ausgeht, dass - ausser den Zugaben - Jarrett vollständig aus dem Moment sich leiten lässt, vulgo: Improvisation das Programm ist, kann man das Verfertigen der Gedanken beim Spielen besonders gut im Eröffnungsstück studieren. Es beginnt pointillistisch mit enger Stimmführung, verfolgt fast wie in einer Suite verschiedene Stadien, darunter ein "Pinocchio"-Zitat (Wayne Shorter), bis zu Anflügen feier Tonalität. Andere wiederum, beispielsweise Carnegie Part VIII, eine schöne Ballade, klingen fast wie komponiert. In den Zugaben ein 12-Takte-Blues ("True Blues") sowie "My Song" aus Jarrett´s europäischem Quartett von 1977.
Das alles kann man beschreiben, dazu bedarf es nicht des Naura´schen Imperativs ("Die Ratio hält das Maul.") Mag sein, dass die Faszination bei diesem & jenem Naura´sche Höhen erreicht ("Ich fühle mich weinerlich."), wir anderen dürfen feststellen, dass "The Carnegie Hall Concert" einen grossen Künstler zeigt, aber nicht durchgängig auf dem Gipfel.
erstellt: 07.10.06
©Michael Rüsenberg, 2004, Alle Rechte vorbehalten