NILS WOGRAM´S ROOT 70 On 52nd 1/4 Street ******

01. Immaculate Conception (Chisholm), 02. Wrong Lips (Wogram), 03. Hyper you, 04. Tight, ouf of Sight, 05. Jilt, 06. The Gift, 07. Ding Dong (Video), 08. Ex, 09. Me, myself and I, 10. Treatment, 11. Bend your branch

Nils Wogram - tb, Hayden Chisholm - as, Matt Penman - b, Jochen Rückert - dr

rec 06.2007
Intuition INT 3423 2; LC-Nr 08399

Cover-Titel und Album-Gestaltung signalisieren eine Botschaft: Root 70, seit einiger Zeit und für lange Zeit die beste Schnittmenge aus deutschen und amerikanischen Jazzmusikern der Generation zwischen 30 und 40, widmen sich dem Bebop.
Cover-Titel und Album-Gestaltung kommen ihrer Aufgabe aber in unterschiedlicher Qualität nach. Während die Graphik (die ohne Namen bleibt) die immer noch jungen Herren ungeschickt in Fotos der damaligen Helden montiert, wie es zu Zeiten von
Photoshop gar nicht mehr erlaubt ist, spielt der Wort-Titel mit zwei Zahlen, die in der Mengenlehre nicht zusammengehören, aber doch wenigstens an die Substanz der Sache gehen.
"52nd" steht für die gleichnamige Straße in Manhatten, Geburtsort des Bebop in den 40er Jahren, das angehängte "1/4" aber indiziert keine geographische Adresse, sondern dass der Tonraum in dieser Produktion nicht chromatisch in 12 Halbtöne, sondern micro-tonal in 24, also
Viertelton-Schritte pro Oktave aufgeteilt wird.
Das liest sich viel schrecklicher, als es klingt.
Nils Wogram beruhigt: "Wir wollten ein Album machen, das vordergründig nach Straight Ahead Jazz klingt, aber im Detail voller Intonationsverschiebungen ist....Wir hätten ja auch ein vierteltöniges Album machen können, das völlig dissonant ist. Aber wir wollten die traditionelle Anmutung der Musik nicht zerstören, sodass sic der Hörer auf die eine oder andere Ebene einlassen oder es sogar zweigleisig hören kann."
Eben.
Root 70 wenden diesmal lediglich programamtisch an, was sie früher auch schon praktiziert haben - und zwar nicht nur bezüglich der verwendeten Tonskalen, sondern auch im Hinblick auf die Kompositionen. Auch früher schon (höre "Fahrvergnügen" oder insbesondere das Album von Hayden Chisholm "Nearness") haben sie sich des beispielweise seit Charlie Parker bekannten Verfahrens der rhythm changes zu eigen gemacht. Übrigens ein zentrales Merkmal der Jazz-Ästhetik, wonach auf die Harmonie-Folgen, die changes von "I got rhythm", eine neue, dazu gleichfalls passende Melodie gesetzt wird. (Auf "Fahrvergnügen" ist z.B. "Time flies" nichts anderes, als "Cherokee" von Ray Noble mit anderem Thema.)
Root 70 schwimmen also auf der Standards-Welle mit, aber mit sehr eingewilligem Boot und eigenem Antrieb; nicht umsonst trägt "On 52nd 1/4 Street" sehr berechtigt den Untertitel "Conceptional Works I".
Die Konzeption ist originell, die Ausführung auf den Punkt gebracht, wie es heute nur wenige Jazz-Ensembles vermögen: elegant, mit vorzüglicher Tongebung, mit formidabler Rhythmusgruppe.
Aber, die Originalität einer Konzeption ist das eine und ihre dauerhafte Gültigkeit etwas ganz anderes. Nicht, dass sich Mikro-Tonalität und Konvention der Form miteinander rieben, auf Nils Wogram´s Wort kann man sich verlassen, viele Hörer werden die Vierteltönigkeit kaum erkennen, so dosiert wird sie eingesetzt. Das Generve der "Avantgarde" ist der Eleganz dieser Musik vollkommen fremd.
Auf Dauer aber vermisst man doch deren - sagen wir es mal so - deren Widerspruchsgeist, ihre Sinn für formalen Nonkonformismus.
Root 70 sind glänzende Improvisatoren, aber wenn sie sich schon in den Käfig der AABA-Formen begeben, können noch soviel mit Vierteltönigkeit darin herumsurfen - es fehlt die Prägnanz, die Attraktivität, ja die Magie der Original-Themen.
Wogram & Chisholm haben in der Vergangenheit verwegene Stücke sich einfallen lassen, die Reduktion von Komplexität bekommt ihnen weniger gut. Sie haben sich selbst overstyled; die Sorge, dem Rahmen zu entsprechen, macht sie weniger aufregend, weniger inspirierend als sonst.

erstellt 24.06.08

©Michael Rüsenberg, 2008 Alle Rechte vorbehalten