Inside Scofield
A subjective View upon
the Past, Present and Future of Modern Jazz

Regie: Jörg Steineck

88 Minuten, 2022

auf Vimeo plus Bonusmaterial

Amazon Prime, Google Play, Apple TV/iTunes (Juni 2023)

Der Film läuft schon eine Viertelstunde. Er begleitet das Scofield-Quartett Combo 66 auf der US-Tournee 2018/19.
Seit dem Tourstart in Seattle, ganz im Westen, sind wir dabei. Der Club „Jazz Alley“, nicht in der Haupstadt des Jazz, nicht in New York City, ist die einzige Station, wo die Band vier Konzerte gibt. Was aber machen die Musiker, die tagsüber eben nicht reisen müssen?
Was Bill Stewart, der Schlagzeuger des Quartetts, in diesen Stunden treibt, sehen wir nicht. Vielleicht folgt er dem sarkastischen Klischee, das sein britischer Kollege Bill Bruford über sich und seinesgleichen verbreitet: er hält die Vorhänge seines Hotelzimmers geschlossen - „damit er nachmittags noch was zu tun hat“.
Die Kamera begleitet John Scofield und Vicente Archer, den Bassisten, bei einem Besuch in einem großen guitar shop in Seattle. Scofield nimmt eine Dobro (Akustik-Gitarre mit Metallkorpus) zur Hand und tippt einen Song von Johnny Cash an.
Man erkennt beide sogleich, Cash & Scofield. Er kommentiert aus dem off. Und der Kommentar zu dieser Szene ist einer von mehreren Merksätzen dieses Films:
„All you need is a good instrument that works, the kind of guitar you play doesn´t matter. But what matters is the sound you get with your fingers. Because what you are really doing, is playing a string and getting a sound out of that string.“
Ein Experte, mit dem die Jazzpolizei diesen Satz bespricht, Lothar Trampert, beglaubigt ihn als wirklichen Merksatz. Er selbst hat eine ähnliche Szene in einem Gitarrenladen erlebt, in Marburg an der Lahn. Der Inhaber greift ein Instrument, spielt etwas vor - und klingt immer anders. Welches Instrument er aber auch an Scofield weiterreicht - es verrät sogleich eine, nämlich seine Handschrift.

Inside Scofield Combo 66   1
Wir sind also filmisch immer noch in Seattle. Backstage im „Jazz Alley“, Scofield teilt Noten aus. Da spricht er aus dem off einen Satz, der dem Film von Titel & Struktur her seine wahre Bestimmung gibt. Seit 1975 sei er nun fast die Hälfte eines jeden Jahres auf Tournee gewesen, und resümiert:
„I am what´s known as a road dog.“
Road Dog. Straßenköter.
Diese Selbstbezeichnung klingt in der deutschen Übersetzung schlimmer als sie gemeint ist, sie ist auch im Amerikanischen als Metapher losgelöst von animalischem Kontext.
Dafür sprechen auch die beiden Folgesätze:
 „When I am on the road, I do feel responsible for everybody. But these people are all road dogs like myself.“
Inside Scofield Plakat   1Road Dogs.
Das wäre der perfekte Titel gewesen für diese 88 Minuten, die wir mit den Musikern teilen.
Dass er einen anderen trägt, spricht weniger gegen den Film, mehr gegen die Titelei.
Wären die großen Anfangs- und Endtitel als Anspruch an den Film ernst zu nehmen, müssten z.B. die testimonials von prominenten Kollegen (u.a. Pat Metheny, Mike Stern, Steve Swallow) neben - nachvollziehbaren - Schwärmereien schon tiefer graben nach dem, was diesen John Scofield, seine Stellung in der Historie des Jazz, ausmacht.
Es müsste beispielsweise mal jemand sein Verhältnis zum Blues bestimmen (den er noch an „authentischer“ Stelle, bei Jay McShann, erlernt hat). Im Grunde spielt er den ganzen Film über „nothing but the Blues“.
Jörg Steineck liegen solche analytischen Ambitionen fern. Seine Form ist die Reportage. Die Bilder - und vor allem die Töne - liefern (um hier erneut Bill Bruford mit seiner Autobiografie ins Spiel zu bringen), gleichfalls Bausteine zu einer noch zu leistenden Soziologie des Tourneelebens von Jazzmusikern.
Und darin ist er gut. Ja, das ist seine Stärke.
Er zeigt das Leben dieser Straßenköter in vielen Details, klug montiert, atmosphärisch dicht, niemals hektisch, mit visuellen Erholungsmomenten und - mit erstaunlich viel Musik, on and off.
Er verklärt das Tourneeleben nicht, er beschreibt eine Passion:
„Sometimes I forget where I am, but it doesn´t matter, you just have to make it to the gig wherever you are.“

Aber, er verschweigt auch nicht die Kosten des so cool-durch-die-Welt-Gleitens.
In einer Szene - die Band sitzt im Zug - montiert Steineck höchst subtil small talk der Musiker mit John Scofield und dessen off-Kommentar, und - ein beinahe unmerklicher Kunstgriff - verschränkt beide synchron einzig im Wort „bullshit“:
„We don´t talk a lot about music. We tell stories, we talk a lot of bullshit and gossip.“
Der dann folgende Satz ist einer der bemerkenswertesten des ganzen Films:
„We lie a lot to each other.“
Wie alle Merksätze fällt auch dieser beiläufig. Aber Steineck setzt dahinter ein visuelles Ausrufezeichen, indem er kurz den ganzen Zugwaggon von oben zeigt. Und dann wieder ins Abteil geht.
Natürlich lässt er die großen Kapitel in der Karriere dieser jazzhistorischen Größe nicht aus (Miles, oder Scofields Mitwirkung an Mingus´ letztem Album, „ich habe kein Wort mit ihm dabei gewechselt.“)
Das sind essentials, sie gehören zwingend dazu. Was den Film auszeichnet, sind die vielen treffenden Verschränkungen von Bild, Ton und Kommentierung durch den Porträtierten.
Den „ganzen“ Scofield kriegt man nicht. Welche Form könnte das je erreichen?
Über „The Past, Present and Future of Modern Jazz“ liest man sich besser schlau.
Aber Jazzmusikern on- und offstage ist man selten so nahe gekommen.
erstellt: 13.05.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Film-Trailer