ALEXANDER HAWKINS TRIO Carnival Celestial *********

01. Rapture (Alexander Hawkins), 02. Puzzle Canon, 03. Fuga, the fast One, 04. Canon Celestial, 05. Rupture, 06. Sarabande Celestial, 07. Unlimited Growth increases the Divide, 08. If Nature were a Bank, they would have saved it already, 09. Carnival Celestial, 10. Counterpoint Celestial, 11. Echo Celestial

Alexander Hawkins - p, synth, sampler, perc, Neil Charles - b, Stephen Davis - dr, per

rec. 21./22.09.2022

Intakt Records CD 398/2023

Ja, Asche auf´s Haupt, pardon dass JC spät erst Alexander Hawkins sich zuwendet. Dafür gibt´s keine Entschuldigung, wohl aber einen guten, nein einen allerbesten Grund: „Carnival Celestial“ ist nun wirklich ein großer Wurf!
Wobei (dies insbesondere gläubigen Christen im Rheinland nahegelegt) der Titel des Albums weder vom Substantiv noch vom Attribut her in der Musik aufgeht. Die liner notes bieten keine Aufklärung, sie verlieren sich in einem fragwürdigen Exkurs (mehr dazu später).
„Carnival Celestial“, der himmlische Karneval, ist nach acht Jahren erst das zweite Album dieses britischen Trios, alle anderen des promovierten Kriminologen aus Oxford (und eben nicht (Jazz)-studierten Pianisten) liegen in kleineren bzw. größeren Besetzungen vor, von Solo und Duos (z.B. mit Tomeika Reid, 2019) bis zu 16 MusikerInnen (die fantastische CD „Togetherness Music“, 2020).
Im gleichen Jahr hat das Trio mit Anthony Braxton mehr schlecht als recht ein Mammutprogramm von 67 Standards absolviert.
Das wesentlich größere Entzücken an der Musik hier beginnt mit dem ersten track, es ist ihm sogar vom Titel her eingeschrieben:
„Rapture“. Das hat, ersten Übersetzungsvermutungen zum Trotz, nichts von „Bruch“ (das folgt erst 4 tracks später) oder gar unserer neu-deutschen Disruption - „Rapture“ verkündet eine ausgesprochen frohe Botschaft, es bedeutet schlichtweg „Entzücken“.
Wir wissen nicht, wie & warum Mr. Hawkins zu diesem - treffenden - Titel fand, worauf er sich bezieht, (so etwas Banales hätten beispielsweise liner notes lüften können).
Wir sind als Hörer frei, uns unseren eigenen Reim darauf zu machen, oder - um mit Meister Enzensberger zu sprechen - das Stück auch gegen den Komponisten zu hören.
Möglichwerweise also hat Hawkins gar nicht beabsichtigt, was wir in "Rapture" zu großem Vernügen hören: eine versteckte Hommage an Patrick Gleeson, 88, den lange vergessenen Synthie-Klang-Macher von Herbie Hancock, Anfang der 70er (auf Alben wie „Mwandishi“, „Crossings“, „Sextant“).
Wo heute plumpe Heranschmeisse an „Bitches Brew“wenig geprüftes Lob einfährt, ist das doch mal eine Abwechslung!
cover Hawkins carnival„Rapture“ also beginnt mit wie ziellos umherstreifenden Kängen von Kontrabass, Percussion und ein wenig Synthie-Geblubber. Das geht so an die zweieinhalb Minuten, bis die Synthie-lines Gestalt annehmen.
Es sind drei an der Zahl, und sie rhythmisieren sich quasi „afrikanisch“, a la Gleeson.
Das Piano tritt aus dem Hintergrund hervor. Aber, es hat gar nichts a la Hancock, es hat nicht mal Akkorde, es erzählt eine kurze Geschichte, völlig unbeeindruckt von dem rhythmischen Teppich, den bis zum Schluß der Kontrabaß verstärkt.
Track 2, „Puzzle Canon“; wieder hilft der Titel weiter. Keine Elektronik, aber auch wieder keine Akkorde: Piano, Baß und Schlagzeug beginnen pointillistisch, mehr und mehr übernehmen linke und rechte Pianohand den Austausch von Mustern, die man durchaus als „Kanon“ hören kann.
Die Patterns verdichten sich bei anschwellender Dynamik, und sie haben ein Ziel: sie vereinen sich zu einem … Schlußakkord.
Track 3, „Fuga, the Fast One“, führt die Bewegung eine Art groovenden FreeJazz fort. Das Piano sehr perkussiv, Akkorde!, man mag hier freie Adaptionen von Monk und Lennie Tristano erspähen. Auf jeden Fall großes Drama!
In „Canon Celestial“ schieben drei Kräfte (gestrichener Kontrabass, Schlagzeug, Synthie) dem Piano einen durchlöcherten vamp zu (zum Schluß des Verfassens dieser Rezension ist noch immer nicht klar, ob es tasächlich in 10/4 steht oder nicht, oder wie oder was).
„Rupture“ folgt. Aber ist das der „Bruch“, das völlig Andere, das man jetzt erwarten müsste?

Ein Bruch ist das nicht, wohl aber eine Differenz zu dem süffigen Groove von „Canon Celestial“: das Intro hat eine offene time, tempo rubato, der Kontrabass knarzt, verbindet sich dann gestrichen zu einer hymnischen Linie mit dem Klavier.
Die drei können wirklich alles: „Sarabande Celestial“ eröffnet frei-metrisch, und wieder läuft als vierter „Mann“ eine Synthie-Linie mit. Yes Folks, das ist FreeJazz, und der Bandleader stützt sein Solo zur Abwechslung mal mit Akkorden. In der Coda bleiben diese, ausgedünnt, neben Synthie-Tupfern stehen.
Der nächste Titel liest sich wie die Überschrift aus einem grünen Paper: „Grenzenloses Wachstum erhöht die Spaltung“, man darf wohl ergänzen „der Gesellschaft“.
Ein Bezug zur akustischen Struktur ist hier beim besten Willen nicht zu erkennen, allenfalls eine Verbindung zu Paul Bley, aber weniger zu dessen Album „Scorpio“ (1973), das der liner notes-Autor Bill Shoemaker als „Prüfstein“ für dieses Album von Alexander Hawkins heranzieht (wir kommen darauf zurück).
Das Stück, das nun folgt, ist das kürzeste, freilich mit dem längsten Titel; und man meint diesen erst jüngst als Slogan gehört zu haben: „Wäre die Natur eine Bank, hätte man sie längst gerettet“.
Und schon rückt unsereins wieder auf die Stuhlkante: das Stück groovt ungemein, es sitzt auf einem 1-Takt-Synthie-Loop mit allerlei rückwärts laufenden Einschüben - und kurz vor Schluß schickt man die ganze Struktur - wie im Techno - durch einen Hochpass-Filter.
Das Titelstück folgt bruchlos über diese technoide Brücke, das Schlagzeug ist das erste Instrument, das dann wieder in vollem Frequenzgang erstrahlt. Erneut ein zweistimmiger Piano-vamp! Und wieder reicht Hawkins allein die rechte Spielhand, um ein ungemein spannendes Solo aufzubauen.
Ja, das könnte man durchaus „kontrapunktischen Funk“ nennen, und was er dann in „Counterpoint Celestial“ anbietet (freilich über ganz anderem Rhythmus) dürfte diesen Eindruck stützen.
Das kennt man durchaus auch von anderen Pianisten, aber was Alexander Hawkins von diesen abhebt, auch von Brad Mehldau, ist der sehr perkussive Anschlag, viel im mittleren und unteren Register.
Vielleicht ein Reflex darauf, wie wir den liner notes entnehmen, dass er „mehrere Stunden am Tag wie besessen Bach übt“.
Apropos liner notes, sie verraten nicht über die durchgehend „himmlische“ Titelgebung dieser Kompositionen. Und was den Einsatz der Elektronik betrifft, bleibt der Verweis auf Paul Bley 1973 rätselhaft.
„Scorpio“ war erkennbar von dem Vergnügen geprägt, dass man mit dem neuen Gerät zwischen Tonhöhen gleiten kann, der Klang-erfinderische Anteil damals tendierte gegen Null. Wiederhören macht wenig Freude.
Wie aber bringt man die frappierende Vielfalt dieses Albums „Carnival Celestial“ auf den Begriff, die unterschiedlichen Texturen, die eben bruchlos zu einem glänzenden Vortrag sich fügen?
(Wobei der hervorragende Piano-Klang in der „Fish Factory“ zu London nicht unerwähnt bleiben sollte).

Bill Shoemaker schlägt „Panstilism“ vor, was in der deutschen Übersetzung (als „Panstilismus“) freilich fast schon verunstaltet wird. Und obwohl er hier durchaus einen Punkt hat, liest sich seine Begrüngung denkbar musikfern:
„Wenn er sich durchsetzen soll, muss Panstilismus so verstanden weerden, dass er über den Eklektizismus, einen aufgeblasenen Begriff für Vielseitigkeit und Namedropping, hinausgeht und ein tieferes kritisches Verständnis der historischen und konzeptionellen Verbindungen zwischen Werken und den Personen und Zeiten, die sie hervorgebracht haben, wiederspiegelt. Es reicht nicht aus, die Punkte zu verbinden, man muss ihre gemeinsame DNA-Stränge kartieren“.
„Verbindungen zwischen Werken und den Personen und Zeiten, die sie hervorgebracht haben“ wiederzuspiegeln. In Musik.
Wohlan, wer den Nerv hat, einer solchen Sisyphus-Arbeit sich stellen. Er/sie wird den Metaphern-Nonsense kaum stemmen.
Wir schlichteren Gemüter ergötzen uns einfach an der Musik des Alexander Hawkins Trios.
Und merken „Carnival Celestial“ schon mal vor für das Best of 2023.

erstellt: 19.04.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten