BRAD MEHLDAU Jacob´s Ladder *****
01. - maybe as his skies are wide - (Mehldau/Lee, Lifeson, Peart, Dubois), 02. Herr und Knecht (Mehldau), 03. (Entr´ acte) Glam Perfume, 04. Cogs in Cogs I - Dance (Mehldau/Minnear, Shulman, Shulman), 05. Cogs in Cogs II - Song (Minnear, Shulman, Shulman), 06. Cogs in Cogs III - Double Fugue (Mehldau/Minnear, Shulman, Shulman), 07. Tom Sawyer (Lee, Lifeson, Peart, Dubois), 08. Vou correndo te encontrar/Racecar (Mehldau/Bois, Bowen, Halpern, Mansoor, Murphy, Sabol, Sotelo), 09. Jacob´s Ladder I - Liturgy (Mehldau), 10. Jacob´s Ladder II - Song (Lee, Lifeson, Peart), 11. Jacob´s Ladder III - Ladder (Mehldau), 12. Heaven: I. All Once - II. Life Seeker - III. Würm - IV. Epilogue: It was a Dream but I carry it still, (Mehldau/„Starship Trooper“, Anderson, Howe, Squire)
Brad Mehldau - keyb, dr, voc, Mark Giuliana - dr (1,5,7,10,12), Luca van den Bossche - voc (1,7,11,12), John Davis - dr-progr (1,4,5,7), Joel Frahm - ss (2,7), ts (7) Tobias Bader - voc (2), Tinkerbell - voc (2,8), Becca Stevens - voc (2,3,5), Lavinia Meijer - harp (3,12), Chris Thile - voc, mand (7), Pedro Martins - voc, g (8,12), Safia McKinney-Askeuer - voc (10), Timothy Hill - voc (11), Joris Roelofs - bcl (11), Cecile McLorin Salvant - voc (12)
rec. 4/2020 - 1/2021
Nonesuch 075597913460
Brad Mehldau goes ProgRock.
Das ist eine gute Nachricht. Wenn ein Jazzkünstler seiner Statur sich dieses seit seiner Geburtsjahre auch von Verachtung begleiteten Genres annimmt, könnte er eine Neubewertung erzielen.
Brad Mehldau goes ProgRock.
Und das richtig. Er zielt in die Herzkammer mit Adaptionen und Inspirationen von Emerson, Lake & Palmer („Herr und Knecht“), Gentle Giant (tracks 4-6), Yes (track 12, „Heaven…“), Rush aus Kanada („…maybe the skies…“ und „Tom Sawyer“) sowie, wie der Name schon nahelegt, eher am Rande Periphery, eine US-Metal-Band.
Brad Mehldau goes ProgRock.
Den Schritt hat er früher schon getan, mit „Finding Gabriel“ (2017/18), diesmal mit durchaus ähnlichem Personal.
Die Entscheidung hätte keiner weiteren Begründung bedurft. So, wie er sich früher Brahms, Coltrane oder Radiohead zugewandt hat, hätte er einfach mal so ein bestimmtes Fenster der Seventies öffnen können.
Aber nein, der Jazz-Meisterpianist ist mal wieder seiner Bildungshuberei erlegen. Er will mehr. Gott muss - wieder - her und nun auch irgendwas mit Hegel.
In der Sprache seines Labels klingt das so: „Das Album enthält neue Musik, die über die Heilige Schrift und die Suche nach Gott reflektiert. Die Musik ist inspiriert vom Prog-Rock, den Mehldau als Jugendlicher liebte und der ihm den Weg zur Fusion ebnete, die schließlich zu seiner Entdeckung des Jazz führte“.
Die New York Times erkennt in „Jacob´s Ladder“ den Versuch, „mit den Mitteln des Prog-Rock - seiner ersten musikalischen Liebe - zu erkunden, wie ein weltliches Leben seinen christlichen Glauben sowohl erschüttert als auch gestärkt haben könnte“.
Brad Mehldau selbst öffnet das CD-booklet mit einem schlichten Glaubensbekenntnis. Das ist ihm unbenommen. Die Frage ist, wozu es hier dient. Wie es sich mit der Musik verbindet.
„Die Platte endet mit meiner Vision des Himmels - noch einmal als Kind, Sein Kind, in ewiger Gnade, in Ekstase“.
Das Ziel der Himmelsleiter („Jacob´s Ladder) wird in Klang umgesetzt durch das weiträumige Umspielen zweier Teile aus „Starship Trooper“ von Yes (aus „The Yes Album“, 1971). Ja, inklusive des zweitaktigen 3-Akkorde-Riffs aus „Würm“ (Steve Howe):
Yes-Fans dürfen seelig aufatmen: Pedro Martins stellt es auf der akustischen Gitarre vor; fast 5 Minuten, wie im Original, wird eines der bekanntesten riffs der Rockgeschichte artgerecht ausgewalzt, inkusive eines Piano-Solos von Mehldau.
„Dies ist eindeutig kein Album für schwache Nerven und wird die Meinungen spalten“, urteilt John Bungey in London Jazz News .
„Auf jeden Fall scheinen hier mindestens drei Alben um die Wette zu singen (keines davon Jazz)“.
In der Tat, „Jacob´s Ladder“ führt nicht zu einem stringenten Eindruck.
Wie es sich angeblich bei ProgRock gehört, gibt auch Brad Mehldau en detail Auskunft über den verwendeten Fuhrpark. Darin befinden sich Pianomodelle (Steinway C und D, Yamaha CP-80, Fender Rhodes, Wurlitzer) bis hin zu historischen Synthi-„Schätzchen“ wie Korg MS20 und Roland Juno 60.
Wie es sich genre-typisch gehört (?), lässt Mehldau auch Klangklischees nicht aus, z.B. die furchtbaren filter sweeps in „Herr und Knecht“, und das Thema von Gentle Giants „Cogs in Cogs“, das er in einer Doppel-Fuge weiterspinnt (track 6), bringt er allen Ernstes so zum Vorschein, als handele es sich um einen bonus track zu Wendy/Walter Carlos´ „Switched-On Bach“ anno 1968.
Das war damals eine handwerklich-technologische Errungenschaft, das könnte man heute als Ironie oder Verarsche verstehen - hätte Mehldau nicht vorher in den beiden tracks seriös davor sich verbeugt:
„Cogs in Cogs“ (aus „The Power and The Glory“, 1974) ist eine gute Wahl. Es konzentriert in drei Minuten alles, was die wohl bedeutendste Gruppe des damaligen Art Rock auszeichnet: Kraft und Herrlichkeit von Polyphonie und Polymetrik.
Das Stück wird sehr unterschiedlich notiert. In einem YouTube-Kommentar führt einer zwischen 3/2 und 17/16 alle möglichen Metren auf; ein anderer spricht ehrfürchtig von einer „shopping list of time signatures“.
Jazzcity hält sich an die Notation aus der Dissertation von Robert Jacob Sivy, wo sich an einer Stelle 6/8 und 15/8 überlagern.
Mehldau hält sich daran. Mit dem Einsatz der Lira da Gamba assoziiert er sogar ein Faible von Gentle Giant, das im Original gar nicht vorkommt, das Faible zur Renaissance Musik.
„Cogs in Cogs“ ist, trotz der beschriebenen Einschränkung, Höhepunkt des Albums.
Das Titelstück geht er ähnlich dreiteilig an, es wirkt aber stilistisch wesentlich verfahrener. Der erste Teil enthält gar keine Musik; er besteht eineinhalb Minuten lang aus einer Lesung aus dem Buch Mosé, mit wechselnden Stimmen auf Englisch und Niederländisch.
(Amsterdam ist Mehldaus neuer Wohnsitz).
„Jacob´s Ladder II“ basiert auf einem Song von Rush, angeschwemmt von klischierten Klängen (u.a. Mellotron), auch ein uralter Sequencer-Wurm gibt den Takt vor für Piano-Spielereien, die sich dann zu einem veritablem Jazzpiano-Solo mausern - weit entfernt freilich vom üblichen Qualitätswerk des Herrn Mehldau.
Der Abschluss der „Ladder“-Trilogie, eine Art Mönchs-Chor mit nach unten transponierten Stimmen, befremdet umso mehr, als eine von ihnen von der Bassklarinette (Joris Roelofs) in einen Schreikrampf begleitet wird.
Was soll das?
Hat das Evangelium nach Petrus, aus dem hier zitiert wird, nicht eine andere Beachtung verdient?
(Nämliches gilt für die gleichfalls geschrieenen Passagen aus dem zweiten Teil des Selbstbewußtseins-Kapitels aus der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel in „Herr und Knecht“).
Cecil McLorin Salvant, die derzeit Vielgefeierte, hat gleich im Anschluss an das Titelstück nicht ihren besten Moment, als sie mit „wordless vocals“, zu gut Deutsch: scat, den Schlusstrack eröffnet. Die Hauptgesangsarbeit übernimmt dann wieder Becca Stevens.
Wer das Original von Jon Anderson von 1971 noch im Ohr hat, wird die immer schon erstaunliche Nähe seines Falsettgesangs zu einer Frauenstimme bestätigt finden.
Obwohl „Heaven…“ ebenso von Sequencer-Gezappel geleitet wird wie die Titel-Trilogie, entsteht doch ein anderer Eindruck; insbesondere durch das lange Piano-Solo-Fadeout aus dem suggestiven riff von „Würm“.
Hier mag man vielleicht einen Anschluß erkennen an die Melancholie von Mehldaus „Suite: April 2020“, seine Sammlung von kleinen Piano-Stücken aus den ersten Wochen der Pandemie.
Ob diese aber wirklich exklusive Mitteilungen aus der Abgeschiedenheit waren, wie weithin rezipiert, mag man zumindest bezweifeln, wenn man auf den Produktionszeitraum von „Jacob´s Ladder“ blickt: er beginnt just im April 2020.
Das ist, vom Ausdruck her, das schiere Gegenteil dazu. Es ist, trotz aller Innigkeit, laut und äußerst kalkuliert.
erstellt: 20.03.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten