PETTER ELDH Koma Saxo ********
01. Kali Koma (Eldh, Sandsjö, Lillinger), 02. Ostron Koma (Sandsjö), 03. Cyclops Dance (Matti Oiling), 04. Byågz (Edward Vesala), 05. Koma Tema (Eldh), 06. Blumer (Lillinger), 07. Fanfarum For Komarum II (Kullhammar), 08. Slakten Makten Takten (Eldh), 09. LH 440 (Innanen), 10. Sport Koma (Eldh), 11. Pari Koma , 12. Sä rinner tiden bort (Olle Adolphson)
Petter Eldh - b, prod, Christian Lillinger - dr, Otis Sandsjö - ts, Jonas Kullhammar - ts Mikko Innanen - as, bars
rec. 03. + 04.12.2018
We Jazz
Das ästhetische Prinzip, dem diese aufregende Produktion folgt, ist der Remix.
Die Produktionsdaten besagen also wenig: wir hören nicht das, was dieses Quintett am 4. Dezember 2018 auf dem We Jazz-Festival in Helsinki und am Vortag in den Finnvox Studios, gleichfalls in Helsinki, aufgenommem hat.
Wir hören auch nicht - wie es üblich gewesen wäre - eine auf Stereo heruntergemischte Version der ursprünglichen Instrumental-Spuren.
Wir hören ein durch erhebliche elektro-akustische Eingriffe - sogenanntes processing - moduliertes Produkt, das die Musiker streckenweise in dieser Form niemals auf einer Bühne darstellen können.
Das ist ein bedeutendes Abweichen von der seit einem Jahrhundert dominierenden Produktionsästhetik des Jazz. Sie heißt Remix, kommt aus der in Studiodingen sehr viel verwöhnterten Popmusik - und ist auch im Jazz keineswegs neu.
An dieser Stelle interveniert dr pic (per e-mail am 22.10.):
„Damit das ´ästhetische Prinzip des Remix´ überhaupt Sinn macht, muss dem Rezipienten der Original-Mix bekannt sein. Wie sollte er sonst den Remix als solchen erkennen, geschweige denn wertschätzen? Wo kein Original-Mix, da kein Remix.“
dr pic ist streng - und er hat recht. Den Begriff aus der Popmusik in den Jazz zu importieren, macht wenig Sinn. Der häufigste Fall des „Remixens“ im Jazz ist die Interpretation von Standards. Und die erfasst nur selten den Produktionsvorgang der elektro-akustischen oder elektronischen Transformation, des processing, von Intrumentalspuren.
Wie gesagt, processing ist im Jazz nicht nicht neu.
Jonas Burgwinkel z.B. ist auf diesem Sektor ein bemerkenswerter Wurf gelungen („Side B“, 2013), Benoit Delbecq („Nu Turn“, 2001, und „Circles and Caligrams“, 2009), nicht zu vergessen sein Duo mit Steve Argüelles (Ambitronix), nicht zu vergessen Herbie Hancock (u.a. „Dis is a Drum“, 1994), ja auch das Vienna Art Orchestra („Art & Fun“, 2001) sowie das britische Trio Troyka („Ornithopia“, 2014).
Womit wir wieder bei Petter Eldh sind, dem in Berlin lebenden Bassisten aus Göteborg; zwei tracks auf „Ornithopia“ waren sein Einstand in die processing-Welt.
In „Koma Saxo“ hat er dieses Prinzip auf ein gesamtes Album ausgeweitet.
Während in den meisten (Pop)Remix-Projekten die Rhythmus-Spuren Vorrang haben (weil die Beats noch mehr auf Dance gepolt werden), schenkt Eldh diesem Bereich kaum Beachtung.
Man könnte auch sagen: wer mit Christian Lillinger arbeitet, bekommt soviel rhythmische Varianz frei Haus, dass ihn auch noch zu remixen einer Tautologie gleich käme.
Verfremdung bezieht sich hier dominant auf die Bläser. So erklingt zum Beispiel in „Ostron Koma“ ein derart in sich verdrehtes, tremo-
lierendes Saxophon-Solo, dass man den Urheber kaum erkennen und bestenfalls - weil er der Autor ist - Eldh´s Göteborger „Landsmann“, nämlich Otis Sandsjö, dahinter vermuten kann.
In „Cyclops Dance“ fällt die Identifizierung noch schwerer, weil hier im range eines Sopransaxophones ein Instrument wie eine Schalmei sich überschlägt (man wähnt sich für einen Moment auf dem zentralen Platz von Marrakesch), während doch von der Besetzungsliste her bestenfalls ein Altsaxophon zum Einsatz kommen kann (von Mikko Innanen, dem einzigen Finnen dieses Projektes).
Das also ist ein up pitch, während bei 3:10 das gesamte Ensemble nach hartem Schnitt tief heruntergestimmt fortklingt (down pitch). Das Thema: kurz, prägnant, tutti.
Es wundert nicht, dass sich unter den zwölf Stücken auch eine Fanfare befindet, „Fanfarum For Komarum II“ vom zweiten schwedischen Saxophonisten der Band, von Jonas Kullhammar.
Das Thema signalhaft wie in den 80ern bei Pigbag, aber - und das hatten die Briten seinerzeit gar nicht drauf - in 7/4, dann eine Auflösung ins Frei-Metrische mit einem Solo a la Brötzmann obenauf, und die Coda schließlich: ein schreiendes Saxophon-loop mit eine geradezu majestätischen Bass- und Schlagzeug-Figur im Untergeschoss.
Die Rhythmusgruppe - Petter Eldh und Christian Lillinger -, wir kennen sie aus Amok Amor sowie aus dem Trio Punkt.VRT.Plastik - erlaubt sich die größeren Freiheitsgrade, die Bläser spielen häufig im uniso, ihre Partien sind vergleichsweise einfach.
Christian Lillinger hat man selten so rock-betont gehört wie hier, es gibt aber auch uptempo swing („Blumer“) oder frei-metrische Passagen (gleichfalls in „Blumer“). Mehrere Stücke gleichen (von der Struktur, nicht vom „Inhalt“ her) den drum concertos von Tony Williams im zweiten Miles Davis Quintett der 60er Jahre.
Apropos Lillinger, wie bei seinen Produktionen stellt sich auch hier die Genrefrage. Nicht die nach dem begrifflichen Dach; es gibt keinen Grund, diesem Album die Zugehörigkeit zum Jazz zu entziehen, aber die Frage nach der Stilistik.
Noch gibt es für diese Art Konstruktivismus kein zupackendes Etikett, aber Post FreeJazz, wie ihn auch die Weimar Jazz Database verwendet, stillt schon mal den ersten Hunger. Die Raserei des FreeJazz, die auch hier aufblitzt, sieht demgegenüber alt aus, das „Freie“ der Konzeption besteht darin, die Grenzen des Spiel- und Zitierbaren noch einmal zu verschieben (mitunter auch auf Kosten der Form: manche Stücke brechen einfach ab), Melodik steht nicht unter Generalverdacht.
In dem nicht mal eine Minute langen „Sport Koma“ taucht wieder eine für Eldh typische Kinderliedfigur auf; den Schluß markiert - man glaubt es kaum - „Sä rinner tiden bort“, ein Choral des schwedischen Komponisten Olle Adolphson. Das Album fällt hier erneut aus dem Rahmen.
erstellt: 21.10.19, ergänzt 22.10.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten