ALLAN HOLDSWORTH Warsaw Summer Jazz Days ´98 *********
01. The Sixteen Men of Tain (Holdsworth), 02. Looking Glass, 03. Above and below, 04. Water on the Brain Pt. II, 05. Material unreal, 06. 0274, 07. Letters of Marque, 08. Texas, 09. Protocosmos (Pasqua)
plus DVD
Allan Holdsworth - g, g-synth, Dave Carpenter - bg, Gary Novak - dr
rec. 19.06.1998
Manifesto Records MFO 46517
Allan Holdsworth ist vor gut zwei Jahren verstorben. Dies ist offenkundig die erste Veröffentlichung postum (möglicherweise liegt "IOU live in Japan 1984" aber doch davor.; Anm. v. 2.8.19)
Sie führt in den Zeitraum einer seiner wichtigen Alben, „The Sixteen Men of Tain“ (1999), ja kann auch als eine Vorarbeit betrachtet werden: fünf von neuen Stücken sind auch auf „Sixteen…“ zu finden. Auch die Besetzung ist identisch, mit dem Unterschied, dass Dave Carpenter (1959-2008) im Studio Kontrabass spielt und hier, vor einem Theater-ähnlichen Auditorium in Warschau 6saitige Baßgitarre.
Es war, wie den liner notes von Gary Novak zu entnehmen, das letzte Konzert dieses Trios. Dass „Carp“ verstorben ist, werden viele Hörer hier überhaupt zum ersten Mal erfahren. Er hatte viele Musikerfreunde in Los Angeles, von John Beasley über Lee Ritenour bis Peter Erskine.
Dave Carpenter ist offenbar überraschend einem Herzinfarkt erlegen.
Und man glaubt Erskine gerne, dass er auch deshalb beliebt war, weil er den Drummer immer „gut aussehen“ ließ. Das tut er auch hier. Carpenter agiert als umsichtiger Begleiter, ist rhythmisch und harmonisch absolut trittfest in den beiden rhythmischen Hauptmodi dieses Albums (dazu später).
Leider gilt das nicht für die Solistenrolle, die ihm häufig eingeräumt wird: hier ersetzt Carp Substanz bzw. erkennbare Struktur durch Tempo.
Gleichwohl trübt diese Einschränkung nicht das Urteil über diese Rhythmusgruppe von Allan Holdsworth: sie ist - wie fast alle Vorgänger und Nachfolger - superb.
Das liegt vor allem an dem polnisch-stämmigen Schlagzeuger Gary Novak.
JC scheut sich nicht zu sagen: one of the unsung heroes of jazzrock-drumming. Novak ist mit seiner kräftigen snare drum bestens aus der Chick Corea Elektric Band II („Paint the World“) in Erinnerung; mit ihm und mit dieser Band liegt auf „Drummerworld“ ein beeindruckendes Video vom selben Ort vor (Warschau, 1994): Novak und Corea in einem dynamischen Duo aus dem besten Stück jener Band, dem Latin-vamp von „Tumba Island“!
Rhythmisch ist dieses Allan Holdsworth Trio gar nicht so weit entfernt von der Elektric Band II, beide pflegen einen intensiven Wechsel von binären (Rock) und ternären (swing) Grooves.
Und sie zelebrieren geradezu eine andere Form: drum-solo gegen riff.
Der opener „The Sixteen Men of Tain“ führt schon mal in die Richtung; nur dass hier der Übergang zwischen den beiden Grooves wunderbar in der Schwebe gehalten wird. Novak swingt schon die ganze Zeit, bei 2:26 kippt plötzlich auch Carpenter in einen walking bass.
Der Effekt: Holdsworth kommt so was von jazzig heraus, wie man es selten gehört hat. Es gibt nicht das geringste Argument, seine Linien nicht als Jazz zu charakterisieren.
Der alles krönende Höhepunkt folgt später, in „Material unreal“ (ein Stück, das in der Originaledition von „Sixteen…“ nicht mal enthalten war).
Holdsworth fummelt so etwas wie ein Klangfarben-„Thema“, ein paar Akkorde, mehr sind seine „Kompositionen“ ja meist nicht.
Aber sie verschwinden ja auch regelmäßig hinter einer stupenden Ausführung.
Hier schleicht sich die Rhythmusgruppe mit einer Figur darunter, die man nur als Free Rock bestaunen kann.
Ein unfassbar pulsierender Groove, über dem Holdsworth alsbald von Akkorden zu single notes wechselt.
Die Linien nehmen eine Blues-hafte, vokale Qualität an, Holdsworth steigert sich in einen Schwall, der sich von den sheets of sound eines John Coltrane allenfalls noch klangfarblich unterscheidet.
Das Trio steigt von diesem Gipfel herab mit … einer walking bass Figur. Holdsworth sägt darüber mit einem unglaublichen timing - dies dürfte eines seiner besten Soli sein.
So könnte es stundenlang weitergehen.
Aber nein, die Musiker geraten ja nicht in Ekstase. Holdsworth lässt sein Solo in eine Folge seiner typischen, glockenhaften Akkorde gleiten.
Es sind sechs, das „Thema“ des Stückes, das abschließend die Bühne bereitet für ein großräumiges, yes folks, drum-solo gegen riff.
Elegant gelingen ihm hier auch die Klangfarbenwechsel zwischen denen einer „normalen“ Elektrogitarre und denen des angeschlossenen guitar-synthesizers - früher gelegentlich Anlass zu Klagen, weil er sich in diesem sonischen Wolkenkuckucksheim zu verlieren drohte.
Nichts dergleichen hier; was Allan Holdsworth in puncto Tongebung, Phrasierung, timing ausmachte, ist hier mustergültig zu studieren.
Größer auch war seine Jazz-Nähe nie.
Selbst wenn „Warsaw Jazz Summer Days ´98“ der komplette Nachlass bliebe - es hat sich gelohnt.
Gar nicht lohnt sich die beiliegende DVD, die zum Teil - in der „Bonus Footage“ - von lausiger Qualität ist.
Allan Holdsworth gehört zu denen, an denen die Vertreter der wohlfeilen Forderung „Das Publikum Abholen, wo es ist“, die Zähne sich ausbeißen.
Es macht einfach keinen Spaß, einem Mann bei der Arbeit zuzuschauen, der vollends in Konzentration aufgeht und - wenn überhaupt - mimisch Zeichen der Mißbilligung seiner Leistung aussendet.
erstellt: 21.07.19
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