CHRISTY DORAN 144 Strings For A Broken Chord *********
01. Cannon Street Canon (Doran), 02. Andromeda, 03. Gunslingers, 04. Broken Chords, 05. Bad News Babe, 06. Goin´ in on the Way Out, 07. Bows and Wahs
Walter Beltrami, Manuel Büchel, Clauco Cataldo, Christy Daran, Lucia D´Errico, Dave Gisela, Christopher Guilfoyle, Franz Hellmüller, Laurent Méteau, Urs Müller, Yves Reichmuth, Florian Response, Simon Ruppig, Philippe Emanuel Schäppi, Philipp Schaufelbagger, Nicolas Stettler, Urs Vögeli, Christian Winiker, Christian Kemp, Gael Zwahlen - g
Martina Berther, Franco Fontanarrosa, Andi Schnellmann, Wolfgang Zwiauer - bg, Lukas Mantel - dr, John Voirol - cond
rec. 13.-15.09.2016
Between The Lines BTLCHR71245
Eine Produktion für 20 elekktrische Gitarren = 120 Saiten, plus sechs elektrische Bässe = 24 Saiten, plus Schlagzeug.
Wie soll ein Toningenieur im Studio eine solche Klangwand „durchsichtig“ gestalten, wie es so schön heißt? Seine Verzweiflung ist auch demjenigen greifbar, der noch nie einen Aufnahmeraum besucht hat.
Es kommen Töne, mutmaßlich laute Töne von 25 Musiker*innen.
Das sind schon mal 9 Beteiligte mehr als Mary Tyszkiewicz in ihrem Modell des „Heroic Improv Cycle“ als grenzwertig beschreibt (in „Applied Improvisation“, Bloomsbury, 2018): eine Gruppe von 16 oder weniger Personen ist am ehesten geeignet, in einem Notfall einander zu helfen.
Ok, das ist real life, wir sind in der Kunst, wir sind im Jazz - und haben deshalb automatisch Improvisation unterstellt.
Und schon vorab, ähnlich unserem armen Toningenieur, das Chaos im Kopf, was ein solches Saitengeschwader wohl anrichten wird. Nicht zuletzt, wer von denen, die ein solches Format anpacken, wird sich die Chance entgehen lassen, mal so richtig auf die Kacke zu hauen?
Obacht, wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht, ohne Christy Doran, 69, den aus Irland stammenden elder statesment der Schweizer Jazzgitarre.
Schon ein erster Blick in die Begleitpapiere (ohne einen Ton gehört zu haben) zeigt an, dass Doran hier wohl etwas anderes vorhat. Man sieht einen Dirigenten bei der Arbeit, der nicht mit dem Komponisten Doran identisch ist, man sieht John Voirol.
Vor allem hat Doran nicht vor, sich solistisch zu exponieren; unter den insgesamt 17 genannten Solisten taucht der Name des Bandleaders nicht auf!
Christy Doran hat für sich eindeutig eine andere Rolle vorgesehen: die des Komponisten. Unter seinen zahlreichen Projekten über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten ist dies dasjenige mit dem höchsten Grad an Planung, Festlegung und - Ökonomie.
Nirgends, außer für zwei, drei Akkordwände, öffnet er die Gatter für alle; Doran bevorzugt die Arbeitsteilung, vor allem auf den Ebenen unterhalb der Soli.
Und deren, in der sogenannten „Begleitung“, gibt es etliche.
Sie sind so reich gestaltet, dass er sich den Luxus leistet, in „Bad News Babe“ ein Thema in Hoketus-Technik, also Ton für Ton in wechselnden Klangfarben, von Instrument zu Instrument laufen zu lassen.
„Bad News Babe“, der track 5, ist der Höhepunkt, ein überaus reiches Bouquet an Formen und Klangfarben, auf „Bad News Babe“ läuft alles zu.
Verglichen damit ist der Auftakt gemächlich. Der „Cannon Street Canon“, wie der Titel schon sagt, ein Kanon, nimmt wenig von dem Reichtum vorweg, der später folgt.
(Wenn man mit allem durch ist, kann man das Stück „mit anderen Ohren“ genießen, als Vorspeise, in der immerhin Franco Fontanarrosa seine Baßgitarre tief hinunter in den Keller verstimmt.
Got it? 20 Gitarristen - und das erste Solo hat ein Baßgitarrist!)
„Andromeda“ besitzt nun einen deutlicheren (Rock)-Beat, und wir begegnen zum ersten Male der bevorzugten Form des Komponisten Doran, nämlich einer Suite. Flageoletts tauchen vermehrt auf, das Stück klingt aus in einer wunderbaren Coda.
Der Rock-Charakter in „Gunslingers“ wirkt fordernder, die Stimmverteilung wird weiter gespreizt, ab 3:40 der erste richtige vamp, ansonsten erstmalig Sounds, von denen ein jeder weiß „Ah E-Gitarre!“
In „Broken Chords“ lässt der vamp nicht lange auf sich warten: bei 1:05 sind alle an Deck, aber lediglich für ganze vier volltönende Akkorde. Sie tauchen in Abständen wieder auf. Die vielen Kleinmuster, verteilt über das ganze Stereo-Spektrum, nähren peu a peu den Verdacht, woher diese kunstvollen Einschübe, die ins Nichts zu führen scheinen, stammen.
Man kennt sie von King Crimson, aus der Phase von „Discipline“ (1981) bis „Three of a Perfect Pair“ (1984).
Es sind bestenfalls Ideenzitate, keine Kopien, Christy Doran´s Musik kennt beispielsweise keinen länger durchlaufenden Beat, sondern immer wieder rhythmische Brüche.
„Bad News Babe“, wie gesagt, addiert den Fluß aus sich verschränkenden riffs aufs Beeindruckendste; manchmal laufen sie ohne Beat, Kippfigur darin ein aus 12 Tönen bestehendes, hypnotisches Motiv.
„Bad News Babe“ ist zugleich das Stück mit der dichtesten Verteilung aller Stimmen.
„Goin´in on the Way out“ bietet einen willkommenen Kontrast zu diesem stop & go. Das Stück ist ein einziges Hoch auf die mit diesen Instrumenten so wirksamen Flageoletts. Es hat keinen Solisten, mithin auch keine Improvisation; es müsste hinfort also zu den vollständig durch-komponierten Jazzstücken gezählt werden.
Der Konjunktiv soll den Zweifel ausrücken, ob die Zuordnung zum Jazz wirklich korrekt ist. Klingend steht es nämlich der staccato-Welt eines Robert Fripp (King Crimson) und damit dem Art Rock viel näher.
Nämliches gilt für den Schlusstrack „Bows and Wahs“, in welchen es unmerklich übergeht. Die Suiten-Form ist auch hier stark segmentiert, anfangs durch rhythmisierte Gitarren-Geräusche, ungemein kunstvoll angeordnet.
Sie kulminieren in einem sozusagen „out of this world“-Solo der Baßgitarristin Martina Berther.
Es folgt eine Passage aus wahnsinnig aufreizenden Rock-riffs in verschiedenen Lagen und Farben, unterlegt von wanderenden Akzenten des Schlagzeugers Lukas Mantel, beat displacement at its best!
Der riff-Meister Christy Doran übertrifft sich hier selbst.
Und es verdichtet sich ein letztes Mal der Eindruck, dass diese Musik, wiewohl dezidiert für elektrische Gitarren geschrieben, unter Abzug bestimmter klangfarblicher Effekte strukturell so beschaffen ist, dass sie genauso gut von einem Kammerensemble interpretiert werden könnte.
Es wäre dies ein Parallelfall zu der ebenfalls Krimson-verwandten Musik von Roger Hanschel, die jener ebenfalls von grundverschiedenen Ensembles aufführen lässt.
Hier: das grandiose Spätwerk eines Schweizer (Jazz)-Musikers, ach was: (…)-Komponisten.
erstellt: 29.08.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten