EMILE PARISIEN QUARTET Chien Guepe ********

01. Dieu má Brossé les Dents (Darrifourcq), 02. Chocolat-Citron (Parisien), 03. Bonjour Crépi (Touéry), 04. Chauve et Courtois (Darrifourcq)

Emile Parisien - ss, ts, Julien Touéry - p, objects, Ivan Gélugne - b, Sylvain Darrifourcq - dr, objects, zither

rec. 2012 (?)
Edel/Laborie Jazz, LC 24585
VÖ: 18.01.2013

Labels haben mitunter keine Sprache für das, was sie musikalisch anbieten. Und wenn sie sich dafür professionellen Beistand suchen, klingt´s oft nicht besser.
„Die schon gewohnten Einflüsse von Pop, Hip-Hop und Electro sucht man beim Emile Parisien Quartet nahezu vergebens.“ So ein Schmarrn. So muss man sich wohl die Umsetzung der Empfehlung vorstellen „den Hörer dort abholen, wo er ist.“
Der Satz ist überdies falsch. Denn wer, aus welchen Gründen auch immer, bei Emile Parisien nach Pop usw. sucht, der sucht nicht „nahezu“, sondern der sucht vollständig „vergebens“.
A la Roland Koch gesprochen: der arme Kerl, der so sucht, der wird „brutalstmöglich“ mit FreeJazz konfrontiert.
Tja, anders kann man´s einfach nicht ausdrücken. Aber, es ist nicht der FreeJazz der Brötzmänner, der Colemans, der Taylors, oder auch Coltranes. Dabei beherrscht auch dieses Quartett das kollektive crescendo wie die Altvorderen; man ziehe nur den Klimax heran, auf den es im ersten Stück bei 10:20 zustrebt.
Aber, es ist ein FreeJazz mit Eingrenzungen, mit Leitplanken geradezu. Und die kann man hören.
Bevor sie später nämlich ausflippen, plänkeln sie eine ganze Zeitlang um die Zither des Schlagzeugers Sylvain Darrifourcq herum, dem Pianisten wird die linke Hand durch ein tiefes 4-Ton-ostinato gebunden, und zwar für lange Zeit, worauf dann ein Thema dekliniert wird. Erst nach 6 Minuten wird der Pianist von seiner Vron befreit, es entwickelt sich ein freies Feld, wie üblich - das sich dann aber vor allem durch die Dominanz des wahnsinnig energischen Tenors von Emile Parisien zu einem Kollektivwirbel verdichtet, der dann - wie gesagt - bei 10:20 aus dem Krater springt.
Das kennen wir, das wäre anderswo einfach so verklungen. Hier aber folgt nicht Stille, sondern eine total simple Pianofigur, die wenig später nach unten greift, zu dem erwähnten 4-Ton-Ostinato. Tenor und gestrichener Bass intonieren ein paar mal ein Kürzelmotiv: fertig ist die Coda, der Rahmen, die Legitimation, noch einmal der Raserei der Altvorderen verfallen zu sein.
cover-parisienIn „Chocolat-Citron“ machen sie etwas völlig anderes. Wie ein stotternder Motor springt ein Rhythmus an, von dem man lange nicht weiss, welcher Ordnung er folgt. Hat er ein Metrum, hat er keins? Man braucht einige Zeit, um sich sprachlich einen Reim auf die offbeat-Orgie zu machen, die sich hier unter allen vier Instrumenten entwickelt. Irgendwas Freies und zugleich Striktes spielt sich ab, dicht wie im FreeJazz, ohne FreeJazz zu sein, von imponierender Intensität. Dazu passt das Thema wie im Punk.
Julien Touéry hat das erste Solo; wer als Pianist in diesem Aufruhr besteht, braucht kein Diplom mehr. Ihm folgt der Bandleader, jetzt auf dem Sopran, das er mit ungeheurer Kraft (und Eloquenz!) befehligt, der Rhythmus wird treibender, dieser Sylvain Darrifourcq muss auf dem europäischen Drum-Monitor sofort nach oben rücken, Parsien steigert sich in einen langgezogenen Schrei - Schluss, aus. Die Leitplanke in diesem Stück zeigt sich in einem abrupten Abfall an Intensität nach fünfeinhalb Minuten.
And still 8 minutes to go.
Was war hier los? Wenn man zurückfährt und die letzten 2, 3 Minuten wieder und wieder hört, entpuppt sich Parisiens Schrei (7 Sekunden!) als Brücke über die letzten Takte eines Riffs. Jawohl, Takte! Denn mehrmaliges Hören enthüllt auch, dass der Pianist schon lange ein Monster-Riff von geradezu Bruford´scher Komplexität aufbaut, gegen das der explosive Darrifurcq antrommelt.
Die Errungenschaft dieses Quartetts besteht darin, hier die metric modulations eines Bill Bruford sozusagen weitergedacht und mit FreeJazz-artiger Intensität aufgeladen zu haben.
Wie gesagt, „Chocolat-Citron“ ist damit lange nicht zu Ende, es folgt eine lange rubato-Passage mit arco (gestrichenem) Kontrabass und Klavier-Innereien, aus dem sich ein Spieluhr-artiges Motiv von Sopran und gedämpften Klavier-Saiten herausschält.
Wie kommen die aus dieser Klein-Manufaktur wieder heraus? Sie beschleunigen das Gewusel und lassen den Baß schon mal den Beat vorgeben, drums und Sopran folgen. Und als schließlich auch das Piano einsetzt ... hören wir das Monster-Riff noch einmal, diesmal nicht in Achteln, sondern Vierteln. Was für eine Architektur!
„Bonjour Crepi“ folgt im Stile des broken swing (klar, dass die sowas können), zudem mit irrsinnigen Tempowechseln. Ein Jean-Michel Pilc hätte seine helle Freude am Spiel seiner im Lande verbliebenen Landsleute.
Das Stück hängt mit einem zum Pegelton mutierten Sopran-Laut über in „Chauve et Courtois“. Auch hier betreten sie bekanntes Terrain, nämlich den Klangaustausch der Frei Improvisierten Musik. Der Bassist hilft dem Quartett heraus durch eine simple Melodei, die am Ende auch a capella dasteht.
Tja, das ist das überraschend unverbindliche Finale einer ansonsten intensiven und ertragreichen Exkursion. Die vier hätten´s auch mit drei Stücken gut sein lassen können, einer guten halben Stunde - wenig für eine CD, aber viel Stoff, der wieder und wieder gehört werden will!

erstellt: 03.01.13
©Michael Rüsenberg, 2013. Alle Rechte vorbehalten