GEORGE Letters to George *********
01. Earthworker (Hollenbeck), 02. Clinton, 03. Bang Bang (Sonny Bono), 04. Washington Carver (Hollenbeck), 05. O´ Keefe, 06. Can you imagine this?, 07. Saunders, 08. Floyd, 09. Grey Funnel Line (Cyril Tawney), 10. Iceman (Hollenbeck)
John Hollenbeck - dr, p, Aurora Nealand - voc, ss, as, keyb, Anna Webber - ts, fl, Chiquita Magic - voc, keyb, p
rec. 26.-28.01.22
Out Of Your Heads Records OOYH 018
John Hollenbeck liebt die Extreme. Wirkliche Extreme.
Im gleichen Zeitraum, als er mit Anna Webber die Bühne in deren Simple Trio teilt, tut er dies auch mit ihr in diesem Quartett.
Beide markieren quasi das jeweils andere Ende der Fahnenstange: das Simple Trio spielt alles vom Blatt, dieses Quartett braucht keine Notenständer. Hollenbeck sagt:
„Die Idee, als ich schrieb, war, dass die Kompositionen unterrichtet werden können, ohne dass man Noten braucht, was die verschiedenen Teile der Stücke stark beeinflusst. Ich weiß, dass einige Leute in der Band nicht mal wissen, in welcher Taktart jedes Stück geschrieben ist. Sie haben ihre eigene Beziehung zu dieser Musik. Das ist schon irgendwie cool. Ich liebe das.“
Das ist reichlich kokett. Niemand sollte sich deshalb in der Annahme wiegen, diese Musik sei unterkomplex. Sie kann bestenfalls von den Ausführenden besser memoriert werden als die im Simple Trio, sie hat weitaus mehr improvisatorische Freiräume und vor allem - sie ist sehr unterhaltsam.
Wie immer bei Hollenbeck tut sich hier ein parcours durch eine regelrechte vamp city auf.
Aber first things first, zunächst das Personal:
John Hollenbeck hat neben der der Neuen Musik zugewandten Anna Webber zwei weitere Musikerinnen an Bord, mit gänzlich anderer Orientierung.
Was man von Chiquita Magic (deren Name vermutlich so nicht in ihrem Pass steht), in Kolumbien geboren, in Toronto lebend (Hollenbeck nach Jahren in Berlin nun in Montreal) im Netz findet, ist schräger Latin-Pop. Der „mikrotonale Synthesizer“, der immerzu angeführt wird, ist freilich nirgends zu hören. Hollenbeck - soweit man das beurteilen kann - hat ihrem Talent offenkundig ein anderes Level eröffnet.
Aurora Nealand schließlich, hat jüngst auf der cologne jazzweek reüssiert.
Sie macht sich gut hier als zweite Saxophonistin.
Und es bleibt offen, wer von beiden (Nealand oder Magic) für die Vokalisierungen verantwortlich zeichnet, die - ganz ähnlich wie bei Ben van Gelder - thematisch oft mitlaufen.
„Letters to George“ ist ein heiteres, durchaus auch hintersinniges Motto, um die 10 Stücke dieser CD zu rahmen; locker, sehr locker. Denn selbst da, wo Widmungen vom Titel her deutlich werden, stehen sie keinesfalls für ein „influenced by…“.
Das erste Stück trägt den Titel „Earthworker“. Und man fragt sich: was hat das mit George oder Georg zu tun?
John Hollenbeck betätigt sich hier als Etymologe.
George kommt, Wikipedia-geprüft, vom griechischen „Γεώργιος“ für Erdarbeiter, letztlich Bauer.
„Earthworker“ beginnt mit einer Synthie-Bassfigur, mit einer Sägezahnschwingung, so phat, wie man sie seit Heiner Goebbels´ „Berlin Kudamm, 12. April 1981“ selten gehört hat.
Das klanghistorische Signal, das darin enthalten ist, lautet retro.
Gar nicht retro windet sich die ostinato-Schlange dieses Klanges über einen Rockbeat: Akzentverschiebungen machen es verdammt schwer, die einzelnen Schritte dieses Grooves zuzählen. Es könnten raffiniert verschleierte 15 Takte á 4/4 sein.
Und dann, ein weiteres retro-Moment, ja -Monument, das das Album prägt: das Wurlitzer Electric Piano, der Vorläufer des auch heute viel gebräuchlicheren Fender Rhodes.
Don Grolnick, Wayne Horvitz, Ben Sidran, Robert Glasper, aber auch Kit Downes; es waren nicht gerade die Schlechtesten, die dem „wärmeren“ Klang des Wurlitzer so einiges abgewinnen konnten.
Dass bei einer so kaputten Form irgendjemand in dieser Band nicht wüsste, wo die Glocken hängen - ein schlechter Scherz, John.
Zumal sich ein wiederum langes Thema dadurch schlängelt, zunächst vocal vorgetragen, dann mit Unterstüzung der Flöte. Es übernehmen Tenorsax und Altsax, und schließlich - der fette Baß sowie das Schlagzeug haben sich verabschiedet - bleiben weibliche Stimme und Wurlitzer übrig.
„Clinton“ ist selbstverständlich dem Funkmeister George Clinton gewidmet. Es hat nichts von dessen Genre, es ist - wie fast alles hier - klar als Jazzrock zu klassifizieren.
„Clinton“ zeigt ein stilistisch anderes Vorspiel. Am Anfang steht ein mäßig-interaktives Tenorsax/Drum-Duo. Nach knapp zwei Minuten zwei Takte keyboard-Akkorde, und dann eines der Monster-vamps dieses Albums: ein 7töniges Motiv, mal um zwei Töne verlängert, gestaucht, gedehnt - man kann sich nicht satt hören.
Als nächstes ein Cover eines großen Hits von Cher, 1966, geschrieben von ihrem damaligen Mann, dem späteren republikanischen Politiker Sonny Bono (1935-1998). Ein Stück ohne Beat, quasi rubato, Aurora singt die Melodie, und durchaus glaubwürdig, wenn Hollenbeck schreibt, „Anna und Chiquita wussten nicht, was sie da spielten und behandelten es wie eine Improvisation“. Das Stück lebt davon.
„Washington Carver“, gewidmet dem afro-amerianischen Naturwissenschaftler (George) Washington Carver (1864-1943), beginnt schlicht mit keyboard-Akkorden auf den Zählzeiten eines 4/4-Taktes.
Und man ahnt, so schlicht bleibt es nicht: Hollenbeck und Nealand ziehen die beiden Holzbläserinnen immer wieder den Teppich unter den Füßen weg mit allerlei Akzentverlagerungen und Tempospielerein. Aber die haben solistisch was drauf, und vor allem haben sie die Sicherheit einer langen melodischen Linie, die zum Ende hin frappiernd Zappa-esk anmutet, etwa aus der „Hot Rats“-Phase, 1969.
Hinter „O´Keefe“ findet sich die (falsch-geschriebene) Widmung für die Malerin Georgia O’Keeffe (1887-1986), wiederum ein vamp-Stück, mit hymnischem Thema.
„Letters to George“ ist in gewissem Sinne eine Corona-Produktion. Die vier Beteiligten, die niemals zusammen gespielt hatten, trafen sich in persona erstmals im Januar 2022 in den Planet Studios zu Montreal. Voraufgegangen war als „Test“ eine Internet-Produktion, initiiert von John Hollenbeck im März 2021. Das Produkt - Hollenbeck nennt es „gelungen“ - ist der track „Can you imagine this?“ Improvisiert wurde um eine Synthie-Figur herum. Nicht gerade das highlight des Albums.
„Saunders“ ist gewissermaßen das Titelstück des Albums, genauer: das Titel gebende. „Letters to George“ ist dem gleichnamigen podcast entnommen, in dem es um die Korrespondenz einer Person mit dem US-Schriftsteller George Saunders, 64, geht. Musikalisch eher eine Ballade mit dominanter Flöte (Anna Webber).
„Floyd“ ist ein Requiem für den am 25. Mai 2020 in Minneapolis von einem Polizisten getöteten George Perry Floyd jr., 1973-2020. Nach einem drum-intro öffnet sich eine breite Synthie-Bassfläche, über die die vier Beteiligten „My heart hurts“ sprechen.
Großer Bruch zu „Grey Funnel Line“. Das Stück steht für die Vorliebe Hollenbecks für moderne Folksongs. Er hat mehrfach Jimmy Webb inszeniert, mit der Frankfurt Radio Big Band. Und in „Grey Funnel Line“ von Cyril Tawney (1930-2005), einem britischen Autor maritimer Lieder, wiederum minimalistisch angereichert, kann man geradezu auch eine potenzielle Big Band Version antizipieren. Großes Kino.
Einen George „Iceman“ gibt es nicht. Hier handelt es sich um den Spitznamen einer US-Basketballlegende, nämlich George Gervin, 71.
Hollenbeck spricht von einem „Fun Groove“. Da ist was dran. Ein wunderbarer Ausklang nach der feierlichen Melancholie zuvor.
„Letters to George“, eine retro-verkleidete, absolut zeitgenössische Spielhaltung, voller rhythmischer Falltüren.
Ein weiterer Anwärter für die Best Of 2023.
erstellt: 28.08.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten