SOFT MACHINE Live at The Baked Potato ***
01. Out-bloody-Intro (Ratledge, Travis), 02. Out-Bloody-Rageous Part I (Ratledge), 03. Sideburn (Marshall), 04. Hazard Profile Part I (Jenkins), 05. Kings and Queens (Hopper), 06. The Tale of Taliesin (Jenkins), 07. Heart of the Guard (Etheridge), 08. Broken Hill, 09. Fourteen Hour Dream (Theo Travis), 10. The Man who waved at Trains (Ratledge), 11. Life on Bridges (Travis), 12. Hidden Details
John Etheridge - g, Theo Travis - ss, ts, fl, ep, Roy Babbington - bg, John Marshall - dr
rec. 01.02.2019
Moon Joon Records MJR102
Man wünschte, man könnte diese Klänge „mit frischen Ohren“ hören.
Mit den Ohren derer, sagen wir, von Jahrgang 1960 aufwärts.
Viele andere nämlich, vor allem Angehörige der Jahrgänge ≤ 1960, begegnen ihnen in der Haltung einer Orthodoxie, sie verhalten sich zu ihnen wie zu Lesungen aus der Heiligen Schrift.
Jede Änderung am Urtext ist ihnen suspekt. Anders als im Falle der wirklichen Heiligen Schrift glauben sie, bei der Rezeption nicht auf Exegeten angewiesen zu sein - schließlich haben sie die „Originale“ noch live erlebt. Zudem können sie sie in Aufzeichnungen jederzeit aus ihrer Tonträgersammlung, vorzugsweise aus dem Schallplattenregal, heranziehen.
Die Erinnerung also ist übermächtig, der Zauber in der Gegenwart schwer zu wiederholen, die Meßlatte hoch und kaum überwindbar, obwohl dem Quartett zwei Musiker angehören, die noch mit dem rätselhaftesten aller legendären Mitglieder von Soft Machine (Mike Ratledge) auf der Bühne arbeiten durften: Roy Babbington (Eintritt in Soft Machine 1971), John Marshall (1972).
John Etheridge stieß 2004 - nach einer langen Pause des Ensembles - hinzu, Theo Travis 2006. Lange mussten sie sich als Soft Machine Legacy ausgeben (allein schon der Namenszusatz signalisierte eine Distanz als lediglich Verwandte).
Zur Welttournee 2019, anlässlich des fünfzigsten Geburtstages (eine inkorrekte Zählung) durften sie den Zusatz fallenlassen und sich als das Original ausgeben - das sie nicht sind.
Zumal wenn zwei Mitwirkende aus den 70ern an Bord sind, dürfte der Beleg für diese These von den Nachgeborenen schwer nachzuvollziehen sein. Denn wo beginnt, wo endet das Original bei einem Ensemble, das viele Umbesetzungen und Wiedereintritte erlebt, aber sein Kernrepertoire weiterhin gepflegt hat?
Für manche Gläubige stirbt das Original bereits mit dem Ausscheiden von Robert Wyatt (1971) oder mit dem von Elton Dean (1972).
Die meisten aus dieser Kohorte dürften sich großzügig auf das Jahr 1976 einigen: da verlässt mit Mike Ratledge das letzte Gründungsmitglied die Band. Klanglich erlischt damit ein strukturelles Alleinstellungsmerkmal, der „Wespe-im-Gehirn“-Sound von dessen Lowrey-Orgel.
So what?
Hat nicht das finnische Ensemble Ambrosius 2000 im Falle Frank Zappa gezeigt, dass auch der Charakter einer extrem individualistischen Musik prinzipiell mit extrem anderem Instrumentarium zum Ausdruck gebracht werden kann? (Ambrosius spielt Zappa auf Barockinstrumenten!)
Warum also sollte das nicht auch im Falle Soft Machine gelingen?
Zumal wenigstens doch ein gelungenes Projekt dazu vorliegt: 2007 das britische Delta Saxophone Quartet mit seinen Soft Machine-Adaptionen für reines Saxophon-Ensemble.
Das freilich setzt Arrangier-
willen & -können voraus, das Etheridge & Co. ziemlich abgeht. Sie agieren eher wie Bestandsverwalter; sie begnügen sich damit, die vorhandenen Strukturen mit ihrem Instrumentarium auszumalen - ein anderer „Blickwinkel“, eine neue Perspektive fällt ihnen nicht ein.
Theo Travis baut die Minimal-Patterns a la Terry Riley in „Out-bloody-Intro“ brav auf seinem E-Piano nach; an sein Tenor-Solo im eigentlichen Stück könnte man sich noch gewöhnen (schließlich hat an dieser Stelle einmal Elton Dean agiert), aber die E-Gitarre von John Etheridge ist und bleibt ein Fremdkörper, mag er auch noch so viele Effekte dazuschalten.
Ja, stimmt schon, immerhin hatte Etheridge in Allan Holdsworth einen Vorläufer.
Aber der war strukturell & klanglich eine solche Einzelanfertigung, dass Etheridge dagegen ausgesprochen „profan“ wirkt.
Einmal, als es wirklich Holdsworth-artig wird, in dessen Glanzstück „Hazard Profile Part I“ (aus „Bundles“, 1975), erzielt auch sein Nachfolger Aufmerksamkeit: als er in seinem zweiten Solo-Chorus mit dem Harmonizer quasi eine zweite Stimme zuschaltet und Theo Travis diese Strecke mit E-Piano-Akkorden grundiert.
In „King and Queens“ erreicht dessen Flöte nicht annähernd die dramatische Elegie des Originals aus dem Album „Fourth“ (1970).
„The Tale of Taliesin“ stammt noch aus dem Fundus der Ostinato-basierten Stücke von Karl Jenkins, aus dem ersten Album der Nach-Ratledge-Ära („Softs“, 1976), der große Rest sind Eigenschöpfungen. Und Bemühungen, an das klassische Material anzuknüpfen.
„The Man who waved at Trains“ von Mike Ratledge (erneut aus „Bundles“) läuft mittendrin. Eigentlich schlingert es mehr.
Das, was einst diese Musik so für sich einnahm, beispielsweise die Spannung zwischen Solist und Hintergrund-Riff, schleppt sich kraftlos dahin. Da ist kein Funke, der das Gleichmaß störte.
Man hört vier Verwaltungsbeamte einer einst großen Idee.
Sie sollen sich davon verabschieden.
erstellt: 26.07.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten