DAVID VIRELLES with BEN STREET & ERIC MCPHERSON Carta ********

01. Uncommon Sense (Virelles), 02. Confidencial (Enrique Bonne Castillo), 03. Lamento Taíno (Virelles), 04. NYChepinsón, 05. Carta, 06. Tiempos, 07. Island, 08. El Tivolí, 09. Samio

David Virelles - p, Ben Street - b, Eric McPherson - dr

rec. 31.05. + 01.06.22

Intakt CD 394/2023

Andy Hamilton, unser guter Freund, hat wenig Platz im Wire (8/2023). Also beschließt er seine Kurzrezension mit mit zwei verbalen Salven:

„With due reference to the test of time, the Cuban pianist must be one of the greatest living jazz musicians.“
Oh je, diese Rakete fliegt aber über unser aller Köpfe hinweg. Ihren Wahrheitsgehalt hat Andy, der Philosoph in Durham/UK, listig irjenswie in die Zukunft verlegt.

Die zweite, die kleinere Rakete, dürfte in ihrem Wahrheitsgehalt hingegen schon in wenigen Monaten überprüfbar sein:
„Album of the year material“.
Andy erwähnt den Höhepunkt des Albums zwar nicht, aber wenn wir, wie gesagt unter Freunden, ihm „ein Stück weit“ (Winfried Kretschmann) entgegenkommen wollen, dann müssen wir zuallererst nicht über das Titelstück reden, sondern über track 6, „Tiempos“.
cover Virelles cartaNach Lage der Dinge sollte man das spanische Wort nicht mit „Zeiten“ übersetzen, sondern mit „Rhythmen“ oder noch besser: „Grooves“.
Denn „Tiempos“ enhält, nein brilliert mit etwas, das im Latin Jazz normalerweise gar nicht vorkommt: Tempo- und Rhythmuswechsel, oder besser: groove switching. Und obendrein extreme Lagenwechsel in der Linienführung des Pianos.
David Virelles beginnt „Tiempos“ piano solo als … Ragtime. Springt dann für knapp drei Minuten in einen langsamen Tango. Um dann für den großen Rest der Zeit, gut fünf Minuten, in einem swing-Shuffle zu verweilen, der aber so was von ausgekostet wird. Herrschaften!
In der linken Spielhand lässt Virelles immer wieder einen vamp aufscheinen, vollständig, in gebrochener Form, von Ben Street gespiegelt; mit Jazzklischees, die sogleich wieder verschwinden durch unübliche Kontraste. Möglicherweise sind diese 8:43 Minuten auch zu verstehen als eine Enzyklopädie des modernen Jazzpianos. In nuce.
Kommt im Schlußteil noch hinzu, drum-solo gegen riff.
Virelles, Street & McPherson könnten ewig so weiter machen. Sie ahnen es. Und lassen den Toningeneur sanft eine Blende ziehen.
„Jazzstück des Jahres“, lieber Andy, da wären wir dabei.
Apropos, Toningenineur: es ist eine -IN, Maureen Sickler, noch dazu im jazzhistorischen Rudy VanGelder-Studio in Englewood Cliffs/New Jersey.
Und sie weiß vor allen Dingen, wie man Eric McPherson in den Details seiner klanglichen Eigenart aufblühen lässt; das melodische drum-intro sowie eine cowbell-Figur in „NYChepinsón“, die rimshots in „Confidencial“, das percussion-Geratsche im Titelstück.
„Carta“ ist übrigens eine rubato-Ballade, noch ein Bruch mit den Konventionen des Latin Jazz.
Es macht Lust, McPherson noch einmal in zwei weiteren Pianotrios nachzuspüren, dem Borderlands Trio sowie Fred HerschLive in Europe“.

erstellt: 09.07.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten