CHRISTIAN LILLINGERS GRUND Cor

CHRISTIAN LILLINGERS GRUND Cor *********

01. Cor (Lillinger), 02. Hiatus, 03. Welt am Draht (LNCH), 04. Kubus, 05. Carotis, 06. Dialau, 07. Narrat, 08. Plastik, 09. Katrin



Christian Lillinger - dr, Pierre Borel - as, Tobias Delius - ts, cl, Achim Kaufmann - p, ep, Christopher Dell - vib, Robert Landfermann - b, Jonas Westergaard - b

rec. 2017 (?)

Plaist 001

Christian Lillinger veröffentlicht sein neues Album „Cor“ unter der Katalognummer 001 auf seinem gerade gegründeten, eigenen Label Plaist.
Da der Schlagzeuger sehr viel unterwegs ist, in kaum noch nachvollziehbar vielen Ensembles, soll das besitzanzeigende Fürwort darauf verweisen, dass es sich hier um ein Projekt in eigener Regie handelt.
Grund als Septett ist keineswegs neu: es hat sein Debüt in identischer Besetzung 2012 auf Clean Feed vorgelegt, „Second Reason“. Auch einen „First Reason“ gab es dort, 2009, allerdings in Sextett-Besetzung.
Der letzte Vorläufer zu „Cor“ entstand im Oktober 2014 im Studio des sich langsam zurückziehenden Labels Pirouet, kurioserweise mit dem Band-Teilnamen „Grund“ als Titel.
Obwohl diese beiden Produktionen nicht nur personell alles, sondern auch konzeptionell manches verbindet, ist der Höreindruck sehr unterschiedlich.
Klingt Lillingers drumset 2014 sehr mittig, fast mulmig, wirkt er hier ungemein präsent. Die snare, die toms - zwei wichtige Teile seines sets - klingen tight & crisp, die cymbals zischeln, die bassdrum hat Druck.
Denn ja, auch die Dymamik ist größer; zu den Eigenheiten Lillingers, mit denen er sich von den meisten Free-Drummern abhebt, gehört nicht zuletzt die auf wechselnde Punkte konzentrierte power, auf die snare, auf die toms, auf die bass-drum.
Vom Wichtigsten her, von der Klanglichkeit, ist „Cor“ ein großer Gewinn.
Die Nebensache (was man in Händen hält, bevor man zur Hauptsache vordringt), erfordert allerdings viel Nachsicht.
Das Design dieser jewel-box-CD ist von ausgesuchter Scheußlichkeit; eine solche 70er Jahre Roboterschrift, die dem Optiker neue Kunden zuführt, hätte andernorts kein Produzent durchgehen lassen.
Liner notes sind praktisch nicht vorhanden. Hier lässt Lillinger die Chance verstreichen, sich zu seiner Musik zu äußern. Dabei hat er viel zu sagen.
Und er sagt auch viel - auf der Webseite von Plaist.
Völlig unprosaisch, ohne irgendeinen konzeptionellen Rahmen zu zeichnen, spricht Christian Lillinger dort en detail über jedes Stück. Es ist eine wichtige Hörhilfe; man wird mit Sicherheit Exzerpte daraus in vielen Kritiken finden.
Diese Hörhilfe ist schon deshalb wichtig, weil die Komplexität der Strukturen überbordend und durch reines Hören allein kaum zu erfassen ist.
Indem Lillinger Teile, manchmal auch nur Partikel benennt (z.B. Einflüsse aus der Neuen Musik, Xenakis, Nancarrow oder aus dem Film, Fassbinder, Lynch) legt er Schneisen, die erlauben, das Ganze peu a peu „in den Blick“ nehmen zu können.
Ob es sich bei diesen neun Stücken wirklich um Kompositionen im engeren Sinne handelt, ist sicher der Erörterung wert, aber zunächst mal ein Fall für die Hochschulseminare.
cover lillinger corViel wichtiger ist, was sich mit ein wenig Hörerfahrung über dieses Album sagen lässt:
„Cor“ ist nichts weniger als eine Neubestimmung des FreeJazz.
Nun gut, man soll/kann/will streiten über die Frage, ob diese Kategorie dazu passt.
Sicher wird dazu auch die beliebte Vokabel vom „aufgeklärten FreeJazz“ wieder aus dem Keller geholt, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn etwas „Freies“ mit ein wenig Strukturierung knapp oberhalb der animalischen Raserei begrifflich eingefangen werden soll.
„Komponierter FreeJazz“ wäre auch nicht schlecht (träfe z.B. auf track 5 zu, „Carotis“, das einer schnitthaften Cutup-Ästhetik folgt).
Oder das unauffällige Post FreeJazz. Darin käme zum Ausdruck, dass viele Elemente aus dem FreeJazz stammen oder sich darauf beziehen - hier aber völlig neu aufgehängt werden.
Die Skala reicht von Kleinigkeiten wie dem Einsatz des Elektropianos („Welt am Draht“, „Carotis“) bis zur Schlagzeugkunst des Bandleaders, für die sich keine Parallele in der Geschichte des FreeJazz findet.
Polyrhythmisch ist das Mindeste, was sich darüber sagen lässt; Lillinger spielt einerseits frei-metrisch, dann wieder aber metrisch so dicht, dass es sich kaum noch verfolgen lässt (z.B. in „Dralau“, wo Thema A in 21/16 notiert ist und Thema B in 22/16).
Er bevorzugt schnelle Figuren auf snare und toms, die ungebunden über den Fundamentalrhythmus flirren. Ein schönes Beispiel dafür ist „Narrat“, wo die beiden Bassisten eine Kollektiv-Improvisation durch eine Art Shuffle-Rhythmus grundieren. Hier kann man, vor allem weil Achim Kaufmann Akkkorde a la McCoy Tyner einstreut, noch am ehesten Verbindungen zum klassischen FreeJazz hören.
Nach der Hälfte der Zeit aber, wenn das Stück „aufgeteilt, gestrichen, entschleunigt“ wird (wie Lillinger schreibt), geschieht dies so radikal, dass man den Beginn eines neuen Stücke wähnt. Aus der starken Vereinzelung aber führt er mit einer Art Klangwolke heraus, die man eher der elektro-akustischen Musik zuordnen möchte.
So geht das in einem fort, in einem Vexierspiel aus unzähligen Fragmenten und Partikeln, vorgetragen mit Drang & Druck, im Stile fordernder Expression.
Und von richtig guten Musikern, die beiden Saxophonisten Pierre Borel und Tobias Delius, aus Frankreich bzw. den Niederlanden, sind großartig, Achim Kaufman wird anders eingesetzt als sonst, und den stärksten Eindruck, neben dem Bandleader, hinterlässt - mal wieder - Christopher Dell.
Dazu trägt insbesondere der Schlusstrack bei, „Katrin/meiner Frau gewidmet“.
99.9 Prozent aller Jazzmusiker würden bei einer solchen Widmung eine Ballade servieren. Nicht so Lillinger & Dell! Sie rasen los, in einem flirrenden Wirbel aus Vibraphon-Patterns und zischelnden snare- und cymbal-Splittern, bis Lillinger in einer Wiederholung sich festhakt und Dell klanglich die Reissleine zieht, indem er die Metallplatten durch Ringmodulation so verfremdet, dass man meint, die Lautsprecherboxen gingen drauf. Nix da. Das Stück wird schließlich durch einen weiteren Effekt in den Abguss gespült.
Frau Lillinger sagt Dank und hält das aus. Dazu hatte sie beispielsweise im Oktober letzten Jahres Gelegenheit, in Ludwigshafen, beim Konzert anlässlich der Überreichung des SWR-Jazzpreises 2017 an ihren Gatten. „Katrin“ hinterließ den besten Eindruck, weil am besten gespielt.
Bei den anderen Stücken konnte man auch an den Musikergesichtern ablesen, was ihnen diese Musik abverlangt. Da war noch Luft nach oben. Ein solches Programm schütteln sie, selbst da sie es kennen, auch nicht immer aus dem Ärmel.

erstellt: 17.01.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten