DAWN OF MIDI Dysnomia **********
01. Io (Dawn of Midi), 02. Sinope, 03. Atlas, 04. Nix, 05. Moon, 06. Ymir, 07. Ijiraq, 08. Algol, 10. Dysnomia
Amino Belyamani - p, Aakaash Israni - b, Oasim Naqvi - dr
rec. 2015
Erased Tape Records ERATP068CD
Wenn nichts mehr dazwischen kommt bis Silvester, gebührt Dawn Of Midi bei JC der Titel „Entdeckung des Jahres“.
Das Konzert des Trios war einer der, vielleicht der Höhepunkt des Moers Festivals 2016.
Auf unsere dringende Empfehlung hin, ein erneutes Konzert in Deutschland zu besuchen (am 02.09.16 anlässlich „30 Jahre Stadtgarten Köln“), schrieb ein nicht ganz unbekannter Saxophonist aus Wuppertal (nein, nicht der Holzbläser aus „Sounds like Whoopataal“):
„Was da rhythmisch passiert, ist der Hammer“.
Wir hatten ihm, auf eine Party, als erste, grobe Empfehlung die Handreichung gegeben: „Steve Reich, aber mit Groove!“
Nun hat unser Wuppertaler Freund aber gut eingestellte Ohren. Nachdem er sich das Album besorgt hat, präzisiert er:
„Als kleine Ergänzung zu Deinem Verweis auf Steve Reich der Hinweis, dass bei Dawn Of Midi die Entwicklungen etwas deutlicher sind, da in den meisten Fällen dort, wo etwas neues geschieht, das in zwei Instrumenten zum selben Zeitpunkt passiert.“
Er hat vollkommen recht. Bei Steve Reich geschieht der Wandel graduell, hier tendenziell eher sprunghaft. Was beide eint, ist die Liebe zur Repetition, zur Wiederholung.
Und - fasten seatbelts - der absolute Vorrang von Komposition!
„Dysnomia“ ist zu keinem Zeitpunkt improvisiert, es ist ein hypnotischer Pattern-Verschiebebahnhof, der auch nicht in Noten vorliegt, sondern oral entwickelt wurde. Das mag man, vordergründig, der Herkunft der Musiker zuschreiben, die aus Ländern mit großer oraler Tradition stammen.
Amino Belyamani, 32, kommt aus Casablanca, Aakaash Israni ist indischer Abstammung (als Bassist ein Schüler von Mark Dresser und Joscha Oetz aus Köln!), Oasim Naqvi hat pakistanische Wurzeln.
Kennengelernt haben sie sich 2006 am Calarts (California Institute of the Arts) in LA, seit 2007 firmieren sie unter Dawn Of Midi. Nein, sie hatten dabei nix Französisches im Sinn, sie beziehen sich auf den Spitznamen eines Professors am Calarts, den sie als „kurz vor MIDI“ einschätzten, also als durchgängig analog, kurz vor Durchbruch des digitalen Musikinstrumentenstandards MIDI.
Damit haben sie - obwohl sie in mancher Ohren so klingen als ob - auch heute nichts zu tun, damit hatten sie eingangs noch weniger zu tun - begonnen haben sie im Bereich … FreeImprov.
Das gefiel ihnen auf Dauer nicht mehr, mit dem zweiten Album schwenkten sie langsam ein in Richung „Komposition“, „Dysnomia“, das dritte, ist vollständig auskomponiert.
Sie haben es an die 150 Mal aufgeführt, vorher an die 150 Mal geprobt. Sie spielen meist mit geschlossenen Augen, ein Blick in eine Partitur brächte nichts, es würde sie allenfalls aus dem Groove bringen.
„Dysnomia“ mag zuallererst als rhythmische Musik erscheinen. Sie ist von einer solchen Kraft, es ist eine solche Orgie an offbeats und Akzentverschiebungen, dass man zunächst meint, einem Meisterwerk der Polymetrik beizuwohnen, also der Schichtung von drei eigenen rhythmischen Ordnungen.
Mehrmaliges Hören, vor allem der Besuch des Stadtgarten-Konzertes (und ein Gespräch mit Belyamani) enthüllen: so komplex ist es nicht, man kann mehr als einmal klare 4/4 heraushören. Es ist polyrhythmisch.
Tatsächlich ruht das Ganze auf einem Netz aus 12/8, mithin genau der Grundstruktur aus „nord- und west-afrikanischer Volksmusik“ (wie Belyamani das nennt), an der sich auch Steve Reich orientiert. Und darauf beruht der unerhörte Reiz dieser Musik: dass sie sich gleichzeitig mit europäischem „binären“ Verständnis hören lässt (4/4) und mit afrikanischem (12/8).
Wie Taschenspieler holt sie mal die eine, mal die andere Karte hervor, meist jongliert sie mit beiden und stellt unser Rhythmusempfinden in Frage. Denn der Beat liegt häufig nicht in der snare, „sondern er liegt in der Stille“ (Belyamani).
„Dysnomia“ aber ist mitnichten nur rhythmische Musik, sie stellt auch eminent klangfarbliche Aspekte heraus. Den größten Part übernimmt hier der Pianist: über weite Strecken bedient nur die rechte Spielhand die Tasten, die linke dämpft derweil die Saiten, und zwar so geschickt, dass der Flügel nicht selten nach einem Fender Rhodes klingt oder den satten Klang einer Flügelsaite auf ein spitzes Pling reduziert.
Der Bassist hat - es geht gar nicht anders - eine überzeugende Intonation, und er kann flageolett spielen. Der Schagzeuger bedient lange Zeit nur snare, toms und bassdrum, er hat nur ein Blechteil, die hi-hat, und die erklingt erstmals nach 16:41 (von insgesamt 47 Minuten).
Die Assoziationen zu dieser Musik stützen sich hörerseitig nicht nur auf Minimal Music, sondern auch auf bestimmte Techno-Spielarten (Belyamani nennt hier „Ymir“ sowie „Algol“). Viele US-Fans lokalisiert er, fast widerwillig, unter „Computer-Nerds“. Tatsächlich mögen die drei von DOM so manches von Aphex Twin, Autechre und vieles andere aus dem Katalog des britischen Labels Warp.
Nicht zuletzt weist Oasim Naqvi in Köln darauf hin, er habe Teile seines Sets ähnlich wie Jaki Liebezeit (Can) gestimmt.
Lassen wir unseren Wuppertaler Freund noch einmal zu Wort kommen, mit einer aufschlussreichen Bemerkung:
„Ich hatte nach dem Hören die merkwürdige Kombination von absoluter Begeisterung über die handwerkliche Meisterschaft und gleichzeitig die Empfindung, dass mich die Musik emotional kaum berührt. Darüber habe ich länger nachgedacht und auch eine Erklärung gefunden. Was uns an allem Jazz und seinen Verwandten gefällt, ist ja nicht nur das Handwerk und die strukturelle Architektur, sondern besonders die individuelle Stimme eines Instrumentalisten. Das Johnny Hodges nur so und Evan Parker nur so klingt, bringt uns die Knaben nah. Und bei besagter Aufnahme haben wir eine Musik, bei der dieses Heraustreten einer Stimme ganz hinter das Gesamtkonzept zurücktritt. Das ist keine kritische Bemerkung, sondern eine für mich stimmige Erklärung, weshalb es zwar meinen Kopf, aber nicht den Bauch erreicht. Ich werde aber sicher noch einige Zeit mit dem Album verbringen und beim Hören immer wieder beobachten, ob sich meine Wahrnehmung vielleicht ändert.“
Wir wollen unseren Wuppertaler Freund nun nicht wegen der neurologisch falschen Kopf & Bauch-Metapher tadeln, sie ist so alltagstauglich, dass wir sie alle falsch-richtig verstehen. Nein, wir sind ihm außerordentlich dankbar, dass er so schön die DOM-Rezeption durch Jazz-Ohren (und -Hirn) beschreibt.
Dies ist nämlich kein Jazz, und zwar nicht nur, weil nicht improvisiert wird. Auch die Klanglichkeit von DOM ist nicht die des Jazz. Andererseits groovt sie „wie jeck“, wie der Kölner sagt. Und das macht sie anschlussfähig für lern-willige Jazz-Ohren.
Auch was das ewige Thema „Emotion“ betrifft, wissen wir Gegenteiliges zu berichten, z.B. jüngst aus der Erfahrung beim morgendlichen Walken: DOM macht sublim. Erhaben.
Joe Zawinul würde sagen: das gilt nicht für einen jeden.
Eben. Ein jeder macht mit dieser Musik, was er will. Und das gilt nicht nur für DOM, sondern für jede Musik.
erstellt: 07.09.16
©Michael Rüsenberg, 2016. Alle Rechte vorbehalten