JULIA KADEL TRIO Über und Unter *****
01. Held (Kadel), 02. Elegia, 03. Trick (Kadel, Enkmann, Roth), 04. Herbstwoche (Kadel), 05. Verklang (Kadel, Enkmann, Roth), 06. Schlagabtausch (Kadel), 07. Unter der Erde (Kadel, Enkmann, Roth), 08. Tanz des Tages (Kadel), 09. Irgendwo dazwischen (Kadel, Enkmann, Roth), 10. In Trance, 11. Wasseroberflächen, 12. Im Anflug, 13. Bis gestern, 14. Hello Sadness (Kadel), 15. Schichten der Nacht
Julia Kadel - p, Karl-Erik Enkelmann - b, Steffen Roth - dr
rec. 2015 (?)
Blue Note 06025 4782399
FLORIAN FAVRE TRIO Ur ********
01. Ur (Florian Favre), 02. Mister Taylor, 03. Indie, 04. Million Miles Away, 05. Cobble Hill, 07. Synergie, 08. Hyperactivité Nocturne, 09. Satellite, 10. Oh Lord!
Florian Favre - p, Manu Hagmann - b, Arthur Hnatek - dr
rec. 29.09.-01.10.2015
Indigo/Traumton 4631
Das also ist Julia Kadel, die viel-gelobte; die nach ihrem Debüt bei einem amerikanischen Traditionslabel schon das zweite Album dort herausbringt; die beim ersten, von Richard Williams kuratierten Jazzfest Berlin (2015) auftreten konnte.
Gipfel, wie sie viele aus dem Feld der europäischen Piano Trios niemals erklimmen werden.
Aber, ist sie auch soviel besser?
Julia Kadel, geboren 1986 in Kreuzberg, hat ihr Instrument mit sieben Jahren über die Klassik kennengelernt, sie hat Jazzpiano in Dresden studiert, nur dass sie dorthin nach einem Vordiplom in Psychologie gefunden hat, unterscheidet sie vom großen Feld der Mitbewerber (bei jazzcity.de sind darin auch auch -Innen eingeschlossen).
„Über und Unter“ wurde von Eric Schaefer, dem Schlagzeuger des Michael Wollny Trios, produziert. Auch wenn bei Kadel und ihrer Rhythmusgruppe die Orientierung an einprägsamen ostinato-Themen weniger stark ist, ebensowenig wie an e.s.t., teilt sie doch mit dem Wollny-Trio die Demonstration von Vielfalt.
Abwechslung kommt heute gut an, wer dem Zuhörer einen reichen Fundus an Einfällen, an Einflüssen und Anspielungen liefern kann, hat damit schon die halbe Miete.
Die Verarbeitung tritt demgegenüber zurück, die Ausarbeitung vielleicht gar in „traditionellen“ Formen sowieso.
15 Stücke in 50 Minuten (das kürzeste 1:37, das längste 4:42) sind ein tolles Maß der Vielfalt, und das Kadel-Trio bietet einiges dafür:
Läufe a la Joachim Kühn („Im Anflug“), Zupfen an Klaviersaiten und 6/4-ostinato („Trick“), arco-bass und uptempo swing („Schlagabtausch“), dr-solo gegen riff („Tanz des Tages“), gedämpfte Klaiver-Saiten und semi-afro-Feeling („In Trance“), semi-Gospel „(Hello Sadness) - you name it, they play it. Und oft finden sie dafür auch noch die richtige Überschrift.
Das alles klingt nett, ist schön ausgeklügelt und erarbeitet.
Gern würde man mal Zeuge, wie dieses Trio „auf Strecke“ spielt, wie es sich anhört auf Dauer, wenn wenig durchschlägt, was vorher abgesprochen ist.
Gern würde man mal einen „dreckigen“ Gospel-Akkord hören und nicht einen, der Carl Maria von Weber gut gefällt.
Gern würde man mal die Leidenschaft spüren, wie sie im Jazzclub zu Hause sein soll und nicht die etüdenhafte Beflissenheit, die am Konservatorium alle Türen öffnet.
Florian Favre kommt aus Fribourg in der Schweiz, er ist vom selben Jahrgang 1986, nein sein Vater ist nicht der berühmte Schlagzeuger, Florians Vater hat sich als Komponist für eine Blaskapelle verdient gemacht.
Florian hat wie Julia Jazz studiert, zunächst in Fribourg, gefolgt von einem Master in Bern (bei Django Bates). Das ist dann schon mal eine ganz andere Hausnummer. Und wer in Erwägung zieht, dass der Schlagzeuger seines Trios, Arthur Hnatek, auch beim Jazzfest Berlin 2015 gespielt hat, aber im Trio von Tigran Hamasyan (wo 35/16-Apparate abgefeuert werden), der weiß, was er hier erwarten darf.
Nämlich Groove.
Das Titelstück zum Einstieg ist schon mal „nicht ganz schlecht“ (Marcel Reif). Eine spieluhren-artige, reichlich punktierte Linie vom mit dem Piano verschränkten Kontrabass, Riff-Architektur über Dreier-Rhythmen (nicht unähnlich verschränkt wie bei den dänisch-englisch-schwedischen Phronesis).
Ja, auch hier ist vieles ausgeklügelt, aber man merkt: hier spielt ein Pianist mit Timing, hier tritt eine Truppe mit Interaktion an.
„Mister Taylor“! Wer immer damit gemeint sein mag (vielleicht John Taylor?), das Trio fließt in einem stimmigen, eleganten Bolero - und holt dann aus!
„Indie“ ist nichts anderes als ein up beat Vamp a la „Satisfaction“ mit slap-Kontrabass (eine uralte Technik). Herrschaften, das ist ein Trio aus Eidgenossen. Und es hat Power!
Und zum ersten Mal kriegt man Florian Favre als Gospel Man zu fassen - und in dieser Eigenschaft lässt er einen nicht mehr los, bis zum finalen „Oh Lord!“, einer langsam wogenden downtempo Gospelnummer.
Zwischendrin immer wieder Gospel-haftes, eng-verzahnte Stimmen, riff-artige Einschübe, Interaktion, ein Trio, in dem alle über ein sehr gutes timing verfügen - das beste Schweizer Pianotrio seit Colin Vallon.
erstellt: 25.04.16
©Michael Rüsenberg, 2016. Alle Rechte vorbehalten