ORCHESTRE NATIONAL DE JAZZ/DANIEL YVINEC Shut up and Dance **********

CD 1
01. Up (Hollenbeck). 02. Melissa Dance, 03. Flying Dream, 04.Shaking Peace, 05. Racing Heart, Heart Racing, 06. Boom/Bob Walk
CD 2
01. Tongs of Joy, 02. Praya Dance, 03. Falling Men, 04. Life Still, 05. The Power of Water

Eve Risser - p, fl, Vincent Lafont - keyb, electr, Antonin-Tri Hoang - as, cl, bcl, p, Matthieu Metzger - ss, as- midi-sax, trombophone, Remi Dumoulin - ts, cl, bcl, Joce Mienniel - fl, bfl, electr, Guillaume Poncelet - tp, flh, keyb, Pierre Perchaud - g, banjo, Sylvain Daniel - bg, Yoann Serra - dr

rec. 06/2010
Bee Jazz Records BEE042

Yes, folks, es ist zum Niederknien (um mal wieder bei Michael Naura zu borgen. Der pflegte bei Keith Jarrett hernieder zu sinken.) Wir tun das in dem Taumel, in den dieses franko-amerikanische Projekt uns versetzt hat.
Zunächst beim WDR 3 Jazzfest live, und dann durch diese Do-CD, die dem Kölner Konzert zu Grunde lag. Sie ist nicht mehr ganz frisch, siehe oben; inzwischen ist schon ein Nachfolger raus („Piazzola“), und John Hollenbeck hat sich mit der Big Band des HR zusammengetan. Das Gute, ja das Beste auszuposaunen, darf sich an kein Verfallsdatum halten.
Die Qualität des ONJ ist seit den 80er Jahren bekannt, zuletzt durch Bearbeitungen von Robert Wyatt-Songs. Just diese hört 2009 in New York John Hollenbeck im Radio und kontaktiert, beeindruckt davon, den künstlerischen Leiter, Daniel Yvinec.
Er war ohnehin auf der Suche nach einem Partner für ein Stipendium des French-American Exchange Program. Yvinec wiederum forschte nach einem Komponisten, der für das Tentett ein Programm entlang der Parameter „Groove“ und „Tanz-orientiert“ schreiben könnte.
Die Kongruenz beider Ambitionen war so groß, dass Hollenbeck und Yvinec mit Hilfe der in Aussicht gestellten Unterstützung das Projekt stemmen konnten.
Es schiesst nicht nur an die Spitze der nicht seltenen trans-atlantischen Unternehmungen, sondern auch in die Oberklasse dessen, was heute Anspruch erheben kann, den Jazz der Gegenwart zu repräsentieren, und zwar in einer betörenden Vielfalt der Formen gepaart mit einer bestechenden Ausführung.
„Sie arbeiten länger und ausdauernder als jedes andere Ensemble, mit dem ich zusammen gearbeitet habe“, schwärmt Hollenbeck, der daheim sein Large Ensemble gewiss nicht mit Leichmatrosen bestückt hat. „Jeder Musiker ist individuell talentiert und zugleich ein Multitalent“ (siehe die Besetzung).
cover-onj-shutupHollenbeck hat - hörbar! - den alten Duke-Ellington-Imperativ angewandt, für individuelle Musiker zu schreiben, ein jedes Stück ist per Untertitel einem einzelnen ONJ-Mitglied und damit Solisten gewidmet (der Doppeltrack 6 im ersten Teil „der Band“ und im zweiten Teil Matthieu Metzger, sowie als Tribut an Bob Brookmeyer, in dessen Band Hollenbeck einst gespielt hat.)
In den lesenswerten liner notes wirft er noch einmal die Fragen auf, denen er sich für dieses Projekt gestellt hat, u.a.: „Wie kann ich eine Musik schaffen, die sich dem Etikett ´intellektuell´ entzieht, gleichwohl aber große Tiefe besitzt? Wie kann ich etwas schreiben, das richtig groovt und das ich trotzdem als tief, krativ und interessant betrachten kann?“
Nun gut, man könnte dem Mann mit seinen eigenen Hörvergnügen entgegen und die Frage(n) von daher für gelöst betrachten. Aber, es wären Scheinantworten, die ästhetische Debatte wäre dadurch mitnichten beendet. Geschätzte acht von zehn Hörern werden diese Produktion als „intellektuell“ einstufen - und zwar mit großer Freude. Denn für die Tatsache, dass viele Stücke Mini-Suiten sind, die ihren Verlauf keineswegs sofort offenbaren, sondern immer wieder durch neue Wendungen überraschen, dafür läge ihnen so rasch gar kein treffenderes Wort vor als „intellektuell“.
Ja, verdammt noch mal, warum denn auch nicht? Und die avancierten Kader unter ihnen wurden mit einer ersten Differenzierung aufwarten, indem sie sagen: „Eine solche Transformation von Mustern der Minimal Music in den Jazz haben wir noch nicht gehört!“
Recht haben sie. Denn was hier groovt, sind auch Rock-Figuren, kein Funk, sondern vor allem Minimal patterns aller Schattierungen. Selbst das einzige Stück, das überhaupt nicht groovt, „Shaking Peace“ für die großartige Eve Risser, eine einzige große rubato Bewegung, die von Piano-Trillern ausgelöst wird, schillert nur so von Miminalismen.
„Shaking Peace“ ist ein guter Anlass, eine weitere große Errungenschaft dieser Produktion herauszustreichen: ihre frappierende Klanglichkeit. Was Hollenbeck über die Mehrfachbegabung der ONJ-Mitglieder sagt, lässt sich mühelos schon nach wenigen Minuten bestätigen: es bleibt ein Rätsel, wie lediglich neun Männer und eine Frau dieses Klangspektakel inszenieren können!
Ach ja, ganz am Rande; es gibt überhaupt keinen Grund, diesem kleinen stilistischen Welttheater das Etikett „Fusion“, vielleicht auch „Jazzrock“ zu verweigern.
Fusion im neuen Jahrtausend heisst, allen halb-tauben Kritikern zum Trotz, schon lange nicht mehr, Schlachten von gestern zu schlagen.
Shut up - and Dance!

erstellt: 06.02.13
©Michael Rüsenberg, 2013. Alle Rechte vorbehalten