VIJAY IYER - Uneasy ******
01. Children of Flint (Iyer), 02. Combat Breathing, 03. Night and Day (Cole Porter), 04. Touba (Iyer), 05. Drummers Song (Geri Allen), 06. Augury (Iyer), 07. Configurations, 08. Uneasy, 09. Retrofit, 10. Entrustment
Vijay Iyer - p, Linda May Han Oh - b, Tyshawn Sorey - dr
rec. 12/2019
ECM 2692
Wenn in ein paar Monaten Bilanz gezogen wird, werden viele Kritiker dieses Album unter ihren „Best of 2021“ führen, manche auch als Album des Jahres.
Die wenigen, die ihnen nicht folgen (wie jazzcity.de) stimmen mit ihnen aber in einem Punkt überein:
„Uneasy“ dürfte das meist-diskutierte, meist-erklärte Jazzalbum 2021 sein.
Der Grund dafür ist sein „politischer“ Charakter, den „zu erkennen“ durch etliche Interviews mit Vijay Iyer wesentlich befördert wurde.
Wie schön, wenn die große Last, nach Jazzprinzipien organisierte Schallwellen zu beschreiben, vom Künstler selbst genommen wird. Und dieser für beinahe jedes der Stücke eine politische Zeitgenossenschaft bestimmt, der man sich - zumal jenseits des Atlantiks - nicht entziehen kann.
Wer wollte bestreiten, dass das Gefühl des Unwohlseins („uneasy“) schon während der Obama-Jahre (so ist es gemeint) berechtigt gewesen sein konnte?
Wer fände es unsympathisch, dass an die „Children of Flint“ (anlässlich eines Vorfalles mit verseuchtem Wasser) erinnert wird.
Oder mit „Combat Breathing“ an die afro-amerikanischen Opfer von Polizeiwillkür? Das Original, 2014 an der Brooklyn Academy of Music, wurde von der Choreografin Paloma McGregor als „Die-In“ inszeniert; „bei dem sich 30 Schwarze auf die Bühne legten, vor einem Publikum, das, unvorbereitet auf diese Demonstration, gezwungen sein war, über die Bedeutung ihrer Untätigkeit nachzudenken, begleitet von seinem (Iyer´s) Solo-Klavier“ (down beat).
Nun ist gerade dieser Komponist/Pianist ein wirklich schlauer Mann, der gegenüber National Public Radio seine künstlerische Rolle sehr wohl gegenüber der realen Welt abzugrenzen weiß:
„Ich denke nicht, dass es fair wäre, wenn mich jemand als Aktivist bezeichnen würde. Das wäre einfach ein Fehler. Ich weiß, was Aktivismus erfordert. Sicherlich ist es nicht dasselbe wie Aktivismus, es einfach nur zu erwähnen. Was ich versuche, ist, die Leute einfach daran zu erinnern, dass man zum Beispiel einer Organisation, die Arbeit leistet, Geld geben kann“.
Solcherlei Feinheiten gehen unter in der Rezeptionssteuerung, die der Künstler mit in Gang gesetzt hat; gipfelnd - wie so oft - in dem, was die SZ daraus macht:
„Wenn man Jazz nicht nur als Musik, sondern auch als Labor für Demokratie und Kommunikation betrachtet, ist ´Uneasy´ein exemplarisch gelungenes Album“.
Was aber machen nun die, die die Prämisse „Labor für Demokratie und Kommunikation“ für abwegig halten?
Sie vergleichen zunächst mal das Instrumental-Format dieses Albums mit einem vorherigen, nämlich dem Trio, das 2014 das bemerkenswerte „Break Stuff“ hingelegt hat.
Das gilt es erst einmal einzuholen.
Den Bassisten-Posten hat nun Linda May Han Oh; sie ist vergleichsweise neu in diesem Umfeld. Tyshawn Sorey liest sich nur discografisch als Neuzugang; er war schon am vorherigen Album „Far from over“ beteiligt, arbeitet aber tatsächlich schon seit 20 Jahren mit Vijay Iyer zusammen.
Der lobt ihn (den gleichfalls McArthur-Fellow und Harvard-Dozenten) in höchsten Tönen - aber unsereins will nicht so recht einleuchten, ob er hier wirklich so viel eindrucksvoller wirkt als sein Vorgänger auf diesem Posten, Marcus Gilmore.
Das Album beginnt mit dem erwähnten „Children of Flint“; ein Stück, das man in Unkenntnis seiner Widmung als gefälligen opener hören kann.
Oh hat ein Solo, Sorey zeigt den interaktiven Gestus, der heute bei vielen seiner Kollegen Standard ist.
Und hier mit schrägen Akzentsetzungen auffällt.
„Children of Flint“ steht in 5/4, das nachfolgende „Combat breathing“ in 11/8. Es enthält insofern eine Neuigkeit, als Vijay Iyer hier - wie später auch noch - eine Affinität zu McCoy Tyner zu erkennen gibt.
Der Reigen ungerader Metren geht weiter: „Night and Day“ folgt in 7/8. Das ist nun wirklich eine originelle Herangehensweise, und zugleich hat man den Eindruck: im Gegensatz zu den beiden Vorgängern wird hier wirklich etwas verhandelt, nämlich ein memorables Thema.
Ähnliche Spannung im übernächsten Stück: „Drummers Song“, eines der hypnotischen Muster aus dem diesbezüglich überreichen Katalog von Geri Allen (1957-2017). Die Geschäftigkeit von Tyshawn Sorey kommt hier gerade recht, das drum-solo gegen riff ist hier regelgerecht eingebaut.
Dazwischen liegt ein Blues, „Touba“, erneut in McCoy Tyner-Manier.
„Configuration“ hat Vijay Iyer 2001 bereits in einem Quartett-Format, u.a. mit Rudresh Mahantappa, veröffentlicht; es ist ein veritables Jazzstück, das mit einem verlängerten trading fours (mehr als je vier Takte) schließt.
Problem der letzten drei Stücke: gut gespielt, keine Frage, aber strukturell einanander sehr ähnlich. Die memorabelsten des ganzen Projektes bleiben die beiden Standards.
„Uneasy“ rangiert keineswegs über „Break Stuff“.
erstellt: 23.07.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten