„Welcher Tünnes hätt´ denn dat gesaht?“
Bei der Jazzpolizei schlägt dieser Satz durch bis auf die Sprache. Hier stellt jemand das Allerheiligste unserer kleinen Welt in Frage.
Aber bevor wir die Quelle offenlegen, reichen wir noch deren Begründung nach:
„Es (Jazz) ist ein Repertoire, einschließlich dessen, was in den Solos gespielt wird. Billy Hart nennt es aus vielen Gründen ´Amerikas klassische Musik´“.
Diese Begründung findet bei der Jazzpolizei erst recht keine Gnade: „Wat für´n Kappes!“
Nun denn, der Autor hat sich bis dato nicht als Tünnes offenbart, es ist der lesenswerte Blogger und respektierte Pianist Ethan Iversion (ex The Bad Plus).
In Folge 191 von Transitional Technology, Überschrift „Is Jazz Improvised?“, aber irrt er:
„Generell gilt: Je schneller die Linien, desto weniger improvisiert sind sie. Deshalb hat Coltrane die ganze Zeit so heftig geübt, er hat sein ständig wachsendes Repertoire ausgearbeitet“.
Genauer gesagt, er vertritt einen zu engen Improvisationsbegriff.
Iverson hätte es besser wissen können, vermutlich kennt er die Früchte der digitalen Improvisationsforschung nicht, also zum Beispiel die Weimar Jazz Database oder deren internationale Erweiterung Dig That Lick.
Wir leiten Iversons post weiter, pardon: wir teilen seinen post mit Klaus Frieler (ex Weimar, heute Max Planck Institut für Empirische Ästhetik in Ffm).
Wenn jemand weiß, was in einer Improvisation wirklich geschieht, dann seine Kollegen und er.
Iversons Annahme, dass bei hohen Tempi die einzelnen Töne nicht mehr gänzlich frei gewählt sein können, unterstützt er.
Aber, „gerade für schnelle Linien braucht man Patterns, aber die sind nicht alles. (Charlie) Parker hat nur Patterns gespielt, aber in der Regel immer fresh zusammengestellt, auch JC (John Coltranes) verschiedene Solos über Giant Steps haben viele gemeinsame Patterns, aber sie sind doch erstaunlich unterschiedlich. Das kleineste Element ist halt nicht der Einzelton, sonder das Pattern, (was auch eine Einzelnote sein kann). Und es gibt große Unterschiede zwischen den einzelnen Musikern, auch was die Impro-Strategien angeht, das ist auch klar“.
(aus privater e-mail-Kommunikation, 30.11.22)
Wie groß die Unterschiede ausfallen, mit anderen Worten: wie sehr daraus eben auch Personalstile entstehen, haben Frieler & Co. mit ihrem Mid-Level-Modell nachgewiesen.
Ach ja, auch in puncto „Komposition“ enthält Frielers mail noch eine Entdeckung der Empirie, aber nicht im Sinne von Komposition als Summe festgebackener „Improvisation“.
Bei einer zufälligen Stichprobe bei Dig That Lick „von 1000 Stücken aus 10 Dekaden Jazzmusik, gab es durchaus 5-10% der Stücke, die kein einziges Solo hatten. So, it’s complicated :-)“.
Oh yes, it is!
erstellt: 02.12.22
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