Die Einschläge kommen näher...

...bei Tilmann Otto, 48, aka Gentleman, ist die bange Frage schon angekommen - natürlich nicht „einfach so“, sondern anlässlich eines neuen Albums des in Köln gebürtigen Reggae-Stars (von dem die meisten in der Jazzwelt noch nie gehört haben):
„Darf ein Weisser noch Reggae machen?“
Zeit Gentleman
Aber, wie lange dauert es „noch“, bis die Frage zum Beispiel Julia Hülsmann erreicht, Till Brönner oder Jonas Burgwinkel?
Dann in der Form:
„Darf man als Weiße(r) noch Jazz machen?“
Interessant in diesem Zusammenhang das Adverb „noch“. Es signalisiert, dass eine langjährige Praxis unter dem Druck der Bedenkenträgerei hinter der Maske der Kulturellen Aneignung heute sich legimitieren muss. Was gestern noch nicht nötig war.
Dabei spricht Otto aka Gentleman nicht nur Patois, den „Dialekt der Karibik“ (ZEIT Magazin 45/2022), er singt ihn auch.
Seit dreißig Jahren und meist vor zehntausenden von Zuhörern, selbst auf Jamaika.
Neu ist, dass aus dieser großen Menge einige wenige Gehör sich verschaffen und damit Anlaß zu bangen Fragen von ZEIT-Reportern bieten.
Neulich war Gentleman Haupt-Act auf dem African Music Festival in Emmendingen (bitte nicht schmunzeln).
„Ein paar Leute meldeten sich auf Social Media zu Wort, weil sie das nicht gut fanden“ (ZEIT Magazin).
Woraufhin Gentleman doch tatsächlich sich bemüßigt fühlt, die offene Tür einzurennen mit der für jeden sonnenklaren Erkenntnis:
„Eine positive Entwicklung wäre, wenn mehr Promoter, Journalisten, Artists, Fans sich bewusst machen würden, was die heritage, also der Ursprung und die Geschichte der Musik ist“.
Wie gesagt, im Jazz ist die Frage noch nicht gestellt; aber was, wenn sie kommt?
Also, „darf man als Weiße(r) noch Jazz machen?“
Die Einschläge auch in unserer kleinen Welt, sie kommen näher.
Da findet sich zum Beispiel im neuen Band 17 der Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung die Anregung, die Jazzhochschulen hierzulande in „Black American Music Institutes“ umzutaufen.


Was aber würden Julia Hülsmann, Till Brönner oder Jonas Burgwinkel auf die bange Frage antworten?
Sie könnten auf den afro-amerikanischen Theoretiker Gerald Early verweisen: 

„Es kann mit Sicherheit gesagt werden, dass wahrscheinlich mehr Weiße als Schwarze diese Musik gespielt haben, ganz einfach weil es in den Vereinigten Staaten mehr Weiße als Schwarze gibt“.
Sie könnten auch einen anderen wahren Gedanken von ihm heranziehen, wonach die Wurzeln des Jazz neben der afro-amerikanischen Kultur auch bei Marschkapellen, im amerikanischen Musical, im Vaudeville und der jüdischen Klezmermusik zu finden sind.
Die verwegene Behauptung Earlys, niemand in Jazzkritik und -forschung würde heute diesen Gedanken pflegen, sollten sie aber unerwähnt lassen.

(Gerald Early: Keith Jarrett, Miscegenation & the Rise of the European Sensibility in Jazz in the 1970s. 2019)
https://doi.org/10.1162/daed_a_01743

erstellt: 03.11.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten