FLOATING POINTS, PHAROAH SANDERS & LONDON SYMPHONY ORCHESTRA Promises *
Promises (Sam Shepherd)
01.-09. movement 1-9
Pharoah Sanders - ts, voc, Sam Shepherd - keyb, Strings of London Symphony Orchestra
rec. 2019/20
Luaka Bop – LB97CD
Wir lehnen uns nicht zu weit aus dem Fenster, wenn wir sagen:
„Promises“ hat alle Chancen, zum record of the year 2021 zu avancieren!
Normalerweise ist dieser Status mit einem uneingeschränkt positiven Urteil verbunden und man freut sich, im Klangschatten eines großen Kunstwerkes mitsegeln zu können.
Wir müssen aber das Undenkbare ins Auge- pardon ins Ohr nehmen und zumindest für 2021 die Trophäe ihres Gewohnheitswertes entleeren und ganz formal verstehen als: die (vermutlich) meistdiskutierte Produktion des Jahres. Im Jazz.
Die Fallhöhe ist immens. Eine der großen noch lebenden Stimmen des FreeJazz, Pharoah Sanders, 80, gibt sich die Ehre. Und nicht nur das. Er präsentiert nicht „irgendetwas mit Vergangenheit“, was man ihm sofort nachsehen würde, er macht sich mit der „Gegenwart“ gemein, mit einem britischen Klangwerker, halb so alt wie er, noch dazu - wir erschaudern geradezu - von der Ausbildung her auch ein promovierter Neurowissenschaftler: Sam Shepherd alias Floating Points.
Kann man sich einen größeren Aufreger vorstellen? Noch dazu - weitere Dimension - die Mitwirkung des London Symphony Orchestra. Und, Wahnsinn!, mit dem Versprechen „Promises“ im Titel!
Vor fünf Jahren habe das Label die Kooperation angeregt; die wesentlichen tracks wurden im Sommer 2019 in Los Angeles aufgenommen, die Streicher folgten einen Sommer später im AIR Studio zu London, dem Studio von George Martin.
Das alles sind Faktoren, die die expectations an „Promises“ in die Höhe treiben - und die jäh in sich zusammenfallen, wenn man während der gut 6 Minuten von Movement 1 feststellen muss, dass das 7-Ton-Motiv und die streicher-haften Klangflächen dahinter alles sind, was der vorgebliche Meister-Elektroniker aus London als Bühnendeko für den Saxophon-Veteranen bereitstellt.
Viel mehr ereignet sich nicht: in Movement 3 tauchen Tonbeugungen vom Synthesizer auf (pitch bends), der Mann befehligt laut liner notes ein Arsenal wie in berühmt-berüchtigen Tangerine Dream Zeiten, bis zurück zu Arp 2600 und EMS synthie.
In Movement 8 (Sanders ist da schon gar nicht mehr dabei) schiebt sich der kleinste Nenner des britischen ProgRock in den Vordergrund, eine an- und abschwellende Hammond B3-Fläche, im letzten Satz erhebt sich kurz eine einzelne Violine aus den LSO Strings.
Was hier (sowie auf Floating Points´ bandcamp-Seite) elektro-akustisch abläuft, ist ärmlich in einem Land, das dieses Feld einst bestellt hat mit Aphex Twin, Squarepusher und Coldcut, von Autechre ganz zu schweigen.
Shephers/Floating Points´ Hauptmotiv, jenes 7-Noten-Thema, in einem cembalo-artigen Keyboard-Klang, es könnte auch von Eno stammen; nur wüsste der, wie man das Bett, auf dem es ruht, schön schimmern lässt.
Pharoah Sanders, einer letzten des klassischen FreeJazz, des Spritual Jazz, hat alle Freiheit zu improvisieren, ja; und hier und da, insbesondere in Movement 7, mag man sich allein an seinem reifen Tenor-Klang erfreuen. Aber es steht ihm nichts gegenüber. Der Mann, der seine große Kunst in der Interaktion mit anderen entwickelt hat, der also aus einer völlig anderen Ästhetik stammt, er spielt förmlich ins Leere.
Der breite Streicherfluß nimmt den Rufer nicht wahr an seinem Ufer.
erstellt: 31.03.21
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